Mit offenem Mund starre ich Sam an. Was war das gerade eben? Ich habe sie kontrolliert... indem ich mit ihnen gesprochen habe. Oder besser gesagt, indem ich ihnen Dinge befohlen habe. Und sie haben gehorcht, einfach so, ohne dass ich sie irgendwie dazu zwingen musste. Sie hätten in dem Moment alles getan, da bin ich mir sicher. Ich hätte ihnen sonst was befehlen können, sie hätten gehorcht. Selbst wenn es ihnen geschadet hätte. Und dieses Etwas in mir... Ich glaube, das ist der Grund für was auch immer gerade geschehen ist. Ich habe mich so mächtig gefühlt, beinahe unbesiegbar. Aber wieso? Was war da los?Sam starrt zurück, ebenfalls mit offenem Mund. Er kann scheinbar auch nicht ganz glauben, was er gerade gesehen hat. Oder besser gesagt erlebt, denn er hat mir ja auch gehorcht. Wie sich das wohl angefühlt hat? Voll und ganz unter meiner Kontrolle zu stehen?
„Wir haben eine Sirene", meint er zu Elane, ohne den Blick von mir abzuwenden.
Sirene? Wie bei der Feuerwehr oder wie? Obwohl... In Fantasybüchern ist ja immer die Rede von Sirenen. Sie sind immer unterschiedlich dargestellt, aber immer haben sie einen betörenden... Gesang. Das würde zumindest mehr Sinn ergeben als die Feuerwehrsirene. Nur gibt es ein Problem, das mich davon abhält, Sams Geschichten zu glauben: es gibt keine Sirenen. Genauso wenig wie es Einhörner und Drachen gibt. All dies existiert nur in Filmen und Büchern, aber ganz definitiv nicht in der echten Welt, was bedeutet, ich bin keine Sirene. Ansonsten würde es mich ja nicht geben, und das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Andererseits halte ich es auch für sehr unwahrscheinlich, dass das, was gerade geschehen ist, nur eine Einbildung oder eine Folge der Droge war. Dafür fühlt es sich zu echt an. Und träumen tue ich auch nicht, denn der Schmerz an meinem Bauch ist echt. Die Situation an sich ist echt, genau wie die gerade eben. Und ich bezweifle auch, dass Sam und Elane mir etwas vorspielen, dafür sehen sie zu geschockt aus. Außerdem habe ich die Macht oder das Etwas ja selbst gespürt.
„Das ist unmöglich. Wir dachten doch, die anderen hätten die letzten Sirenen beansprucht?", stammelt Elane.
Sam zuckt nur ratlos mit den Schultern. Was soll das bedeuten, die anderen haben die letzten Sirenen für sich beansprucht? Wo bin ich hier reingeraten?
„Kann mir bitte mal jemand erklären, was hier vor sich geht?"
Jetzt sind die Blicke auf mich gerichtet. Auf mich, wie ich blutig und zitternd auf einer Liege liege, mit zerschnittenem Kleid und zerschnittener Haut, zerzausten Haaren und das Gesicht voll Panik. Ein toller Anblick muss das sein.
Als ich keine Antwort bekomme, richte ich mich auf. Zu schnell, mein Bauch zieht und ich sauge zischend die Luft ein. ich werde jetzt nicht an Schmerz denken. Es ist ein Oberflächlicher Schnitt, nichts weiter, nichts, was mich umbringen könnte, also auch nichts, worüber ich mich jetzt beklagen sollte. Ich werde es so gut wie möglich ignorieren.
Provokativ funkle ich Sam an. Er redet nicht? Gut, das Spiel können zwei spielen. Aber ich möchte jetzt endlich wissen, warum ich hier bin. Und was gerade geschehen ist, denn offensichtlich wissen Sam und Elane dass sehr genau.
Sam schüttelt jedoch nur den Kopf. Super.„Noch nicht jetzt. Wir müssen erst mit unserem Vorgesetztem reden."
Ein Vorgesetzter also, aha. Die Frage ist nur: Ein Vorgesetzter wovon? Das hier sieht mir nicht gerade wie ein Geschäft aus. Und Sam und Elane verhalten sich auch nicht wirklich wie die typischen Angestellten. Eher wie die Vorgesetzten selbst.
„Komm mit", meint Elane zu mir, während sie mir ihre Hand anbietet. Etwas, was ich definitiv nicht annehmen werde.
Mitkommen tue ich trotzdem, was habe ich auch für eine Wahl? Das Etwas ist endgültig weg, ich bin wieder so wehrlos wie vorher. Außerdem bin ich neugierig. Verdammt neugierig. Ich möchte wissen, was hier passiert. Und ich möchte wissen, was Sam mit wir haben eine Sirene meint. Denn langsam fällt meine Abwehr. Ich fange an zu glauben, was Sam und Elane mir erzählen. So tief bin ich gesunken, so fertig bin ich bereits.
Sam und Elane setzten mich nach einem kurzem Marsch vor einer Tür ab.„Rein mit dir", befehlt Elane mir.
Ich öffne die Tür, erstaunlicherweise ist sie nicht verschlossen, und gehe rein. Hinter mir fällt die Tür zu und ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Klick-klack. Ich bin eingeschlossen. Aber komischerweise bekomme ich nicht wieder Panik. Entweder ich habe durch die Folterkammer genug erlebt oder mein ganzes Adrenalin ist restlos aufgebraucht. Oder beides, was noch am wahrscheinlichsten ist.
Seufzend lasse ich mich auf eine Couch neben mich fallen. Jedenfalls glaube ich, dass es eine Couch ist, denn es ist stockduster und ich sehe absolut nichts. Aber ich habe gerade weder Lust noch Energie, mich nach einem Lichtschalter umzusehen. Stattdessen lege ich mich nun auf der Wahrscheinlich-Couch hin, wobei mein Bauch sich alle Mühe gibt, mich davon abzuhalten, und schließe die Augen. Ich bin so müde. Obwohl ich im Bus und an der Haltestelle etwas geschlafen habe, hat die Befehl-Aktion in der Folterkammer meine gesamte Energie geraubt, bis auf den letzten Tropfen. Was auch immer ich da gemacht habe, es war anstrengend. Sehr anstrengend. Und dann ist da noch das ständige Adrenalin, die Wunde an meinem Bauch, dass stundenlange Laufen durch die Gänge,... Ja, ich glaube, ich darf müde sein. Und das bedeutet, ich darf jetzt auch schlafen. Endlich.Ich träume... nichts. Nur schwarze Schwärze. Und ich falle auch nicht, ich stehe einfach nur in dieser unglaublich schwarzen Schwärze. Und da ist wieder dieses Etwas, direkt unter meinem Brustkorb. Es sitzt unter meinen Rippen, wartend, lauernd, bis es wieder gebraucht wird. Es nistet sich ein, macht es sich gemütlich, wissend, seine Arbeit ist getan. Aber es schläft nicht. Es wird niemals schlafen. Es wird wachsam sein. Sich nicht zu früh zeigen. Es wird mich beschützen, wann immer es denkt, ich brauche es. Es ist mehr als nur ein Etwas. Es denkt. Es plant. Es wägt ab. Es ist ein lange verloren geglaubter Teil von mir selbst.
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Es ist ein Spiel. Alles.
FantasyAva ist ein ganz normales Mädchen. Fängt so nicht jede Geschichte an? Nun, sie ist nicht ganz so normal wie gedacht. Sie ist nämlich kein Mensch, sondern eine Kreatur, die man nur aus Büchern kennt. Eine gefährliche, ja, sogar tödliche Kreatur, die...