|Kapitel 6|

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Ich starre Sam entgeistert an, suche nach Anzeichen, dass dies ein Scherz ist. Nach einem unterdrücktem Lächeln, während er auf meine Reaktion wartet. Nach irgendwas, doch da ist nichts. Er meint das ernst. Meine Mundwinkel zucken unter dem, mittlerweile vollkommen durchnässten, Knebel. Er meint das wirklich ernst.

„Was?", fragt Sam. Er scheint es nicht für möglich zu halten, dass ich ihm nicht glaube.

Das wars. Ich kann nicht mehr. Ich pruste los. Ich bin ein Magier. Na klar.

„Was ist denn jetzt so lustig?", fragt Sam, scheinbar ernsthaft verwirrt. Das trägt nur dazu bei, dass mein Lachen noch lauter wird, als es eh schon ist.

So sitze ich da bestimmt fünf Minuten lang, lache mich wortwörtlich tot bis mein Bauch anfängt vor Anstrengung zu schmerzen und mich dazu zwingt, aufzuhören, während Sam mich mit offenem Mund anstarrt.

Unter Lachtränen schaue ich zu ihm auf.

„Meifth fu fsa erfsth?", nuschele ich durch den Knebel.

Sam rollt nur genervt mit den Augen. Scheinbar versteht er so langsam, dass ich ihm nicht glaube.

„Ja, ich meine das erfsth. Aber ich kann dir nicht verübeln, dass du mir nicht glaubst. Ich habe dich schließlich entführt. Und Drogen gegeben. Du musst glauben, ich sei verrückt."

Ich nicke, während ich wieder anfange zu kichern. Jap, das ist genau, was ich denke. Oder er ist drogensüchtig. Vielleicht ist das Medikament ja irgendein Halluzinogen, das ihn denken lässt, er hat irgendwelche Kräfte. Vielleicht denkt er ja, ich habe auch welche und hat mir deshalb das Medikament gegeben... Und bald werde ich auch süchtig sein. Meine Situation ist also weiterhin ziemlich aussichtslos.

Noch während ich über mein, meiner Meinung nach bemitleidenswertes, Schicksal nachdenke, wird auf einmal eine Tür geöffnet und ein Mädchen, vielleicht zwei Jahre älter als ich, kommt hinein. Sam scheint sie schon erwartet zu haben, denn er schaut auf die Uhr, seufzt kopfschüttelnd und dreht sich wieder zu mir, um mir mit irgendeinem Gerät in die Augen zu leuchten.

„Ein Hallo wäre schön", macht sich das Mädchen bemerkbar.

Darauf antwortet Sam nicht. Nun schüttelt das Mädchen seufzend den Kopf.

„Stur wie eh und jeh. Nur weil es das erste Mal ist, dass du für die Neue zuständig bist."

„Immerhin bin ich für die Neue zuständig", entgegnet Sam trocken.

Die Neue bin dann wohl ich. Und es scheint eine große Ehre zu sein, für mich zuständig zu sein, denn das Mädchen senkt traurig den Blick.

„Ich bin noch nicht lange genug hier. Sie vertrauen mir noch nicht."

Sie? Bin ich etwa in eine Art Sekte hineingeraten? Oder in eine Bande drogensüchtiger Obdachlose? Obwohl... Der Raum sieht
ziemlich teuer aus. Genau wie die Kleidung von Sam und dem Mädchen. Vielleicht eine Drogen-Großmacht oder so ähnlich.

„Sie vertraut uns aber auch nicht. Das heißt wohl, ab in den Raum mit ihr."

Diese Betonung. Sie flüstert fast, als sie Raum sagt. Und Sam senkt ehrfürchtig den Kopf. Aber was kann an einem Raum schon so besonders sein? Vielleicht bringen sie mich ja in ihr Drogenlager, um mich ordentlich zuzudröhnen. Weiterhin habe ich nicht so viel Angst, wie ich sollte, wahrscheinlich stehe ich unter Schock. Obwohl... Weiß man, dass man unter Schock steht, wenn man unter Schock steht? Oder denkt man dann einfach, alles währe normal? So kam es mir immer vor, wenn in Filmen Leute unter Schock stehen. Ist das überhaupt bewiesen? Das es dieses Unter-Schock-Stehen gibt? Wahrscheinlich schon, oder? Immerhin sagen das auch Ärzte. Zumindest in Filmen. Ich habe noch nie einen echten Arzt sagen hören, das jemand unter Schock steht. Aber ich habe auch noch nie einen Arzt sagen hören, dass es dieses Unter-Schock-Stehen nicht gibt, also gibt es das wohl, oder? Ich will Sam fragen, was er darüber denkt, aber, naja, der Knebel.

„Hast du das Tuch?", fragt Sam.

„Ja, hier."

Das Mädchen wedelt mit einer Art schwarzem Schal durch die Gegend. Wahrscheinlich für meine Augen.

„Wieso benutzen wir eigentlich nicht einfach den Sack, wie wir es sonst immer machen?"

„Weil sie scheinbar besonders ist", entgegnet Sam.

Ich weiß zwar nicht, was ich davon halten soll, besonders zu sein, aber ich bin definitiv glücklich, nicht wieder den Sack über den Kopf gestülpt zu bekommen. Da ist mir eine einfache Augenbinde tausend Mal lieber. Zumindest werde ich mit ihr noch atmen können.

Das Mädchen übergibt Sam das Tuch, welcher auf mich zu kommt und es mir erstaunlich sanft um die Augen legt und hinter meinen Kopf zu einem festen Knoten zusammenfasst. Jetzt sehe ich nur noch schwarz. Schwarze Leere. Leere Schwärze. Irgendwie angenehm, zumindest wenn man bedenkt, dass ich so nicht sehe, ob sie mich in einen Raum voller Drogen, voller Waffen oder voller flauschiger Betten mit rosa Kissen und Einhorn-Plüschtieren bringen. Wenn ich mich nur stark genug konzentriere, bringen sie mich zu einer Überraschungsfeier. Zu einem Kissenparadies. In einen Freizeitpark. Ans Meer. In die Berge. Zum-

„Du musst jetzt aufstehen", reißt mich das Mädchen aus meinen Gedanken.

Eine zarte Hand legt sich um meinen Arm, definitiv nicht die von Sam. Gleichzeitig dringt ein Geruch von Rosen in meine Nase. Ihr Parfum riecht gut. Als ich mich aufrichte, kitzeln ein paar Haare an meinem Ohr, beim Gehen stößt sie immer wieder mit dem Ellembogen gegen meinen Bauch. Langsam lässt der Schock nach. Sie haben mich in ihrer Gewallt. Die Vorstellung von Regenbögen und Einhörnern verschwindet, blutigere Szenen treten an ihre Stelle. Einige brutale Tagträume später bin ich mir sicher: Sie wollen mich töten.

Nur tun sie das noch nicht. Wir gehen nur. Und gehen. Und gehen. Und gehen, gehen, gehen, gehen Kilometerweit, jedenfalls kommt es mir so vor. Das Mädchen und Sam reden dabei kaum, was mir eigentlich ganz lieb ist. So kann ich mich besser konzentrieren, an meinem Fluchtplan arbeiten, zumindest rede ich mir ein, dass ich das tue. In Wahrheit denke ich mir nur eine mögliche folgende Szene nach der anderen aus, in manchen sterbe ich, in manchen werde ich versklavt, in manchen... weiß ich nicht einmal, was genau passiert, aber gefallen tut es mir nicht. Und mit jeder Szene steigt die Panik.

Es ist ein Spiel. Alles.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt