04.10.2019
Lieber Herr S.,
Es ist wie eine Sucht. Eine seltsam Art der Faszination für das... "Belangt-werden" ? Es ist widerlich.
Ich brauche das, ich spüre das ich es wieder brauche. Wenn ich ehrlich bin, habe ich dieses Gefühl schon seit ich ungefähr 9 Jahre alt bin. Ich habe davon geträumt, darüber geschrieben, ich habe auf die Zukunft gehofft und schon damals gewusst dass das nicht normal ist. Immerhin habe ich durchgehalten, das zeugt zumindest für starke Selbstdisziplin. Am Ende hat es sich schon zugespitzt doch ich habe durchgehalten bis ich von meiner Familie weg bin, alleine wohne und für mich selbst sorgen muss.
Ich kann mir nicht erklären warum es mir gefällt der Polizei zu begegnen, ich kann es mir beim besten Willen nicht erklären, aber es ist ein Verlangen. Brodelnde kriminelle Energie. Das klingt wie ein schlechter Scherz ich weiß, aber ich brauche das. Jetzt mehr denn je.
Es kann natürlich simplen Dingen zugeschrieben werden wie Aufmerksamkeit, Fürsorge, Beachtung. Bestimmt ist da auch was dran. Wer kümmert sich sonst um mich?
Es gefällt mir wenn sie mich schimpfen und belehren. Das zeigt mir das ich echt bin. Das ich nicht allen egal bin. Sie sind sehr tief in meinem Gehirn drinnen wenn Sie diesen Brief lesen.
Kann man das wirklich alles auf eine fehlende Vaterfigur schieben? Langsam kommt mir diese Ausrede wie eine Ausrede vor.
Wenn sie mich fühlen lassen dass ich es wert bin.
Vermutlich habe ich all die Jahre soviel in mich „hineingefressen" dass ich mich selbst zu einer unfassbar einsamen Person gemacht habe. Es hat sich soviel angelagert in meiner Seele, dass wird nie wieder weggehen.
Ich hätte kein Problem damit ins Gefängnis zu gehen, manchmal wünsche ich mir das sogar.
Das einzige was mich zurück hält ist meine Familie. Meine Geschwister für die ich ein Vorbild sein muss, meine Eltern und Großeltern die ja „so stolz" auf mich sind, wie ich meinen Weg gehe und das ich so viel Freude am Theater habe. Sie kennen nur diese Marta. Sie Herr S., kennen auch die andere Marta. Es ist fast schon ein Doppelleben. Trotzdem würde ich lieber ins Gefängnis gehen. Nicht für immer natürlich, aber vielleicht so für ein Jahr.
Ich weiß nicht was als nächstes kommt, jetzt muss ich erstmal warten bis sich die Wogen glätten.
In zwei Wochen ist *Opernname* Premiere und meine Mama, mein Bruder und meine Oma und mein Opa kommen mich für ein paar Tage besuchen und schauen sich auch die Oper an.
Wenn die wieder weg sind, gehts in die nächste Runde. Dann darf ich mich wieder gehen lassen.
Alkohol habe ich abgehakt, sonst denken die noch ich bin Alkoholiker. Noch eine Straftat wäre auch eher ungünstig weil das aufs Geld geht. Obwohl ich immer noch Diebstahl im Fokus hab.
Ich würde gerne wissen wie weit man damit kommen kann. Aber das spar ich mir auf für schlechtere Zeiten, das könnte schließlich ne größere Nummer werden.Ich weiß. Ist nicht so das ich mich selbst feier. Ich schäme mich für diese Gedanken, erst Recht wenn ich an meine Geschwister, vor allem an meine Schwester denke, die immer alles genauso machen will wie ich.
Ich hasse mich für ständiges Selbstmitleid und meine Rechtfertigungen.
Hab ich das nicht schon in meinem letzten Brief erwähnt? Rechtfertigungen gibt es eigentlich immer, damit man die Handlung nachvollzieht. Also bleibt mir ja im Grunde nichts anderes übrig als mich selbst zu rechtfertigen oder? Was soll ich sonst machen?
Ich kann die Leinen nicht mehr länger halten Herr S. . Es spannt zu sehr, überall, an meinen Armen und Beinen, sie ziehen mich in alle möglichen Richtungen und ich weiß nicht wie lange ich sie noch festhalten kann bevor ich auseinander gerissen werde.
Ich weiß nicht welche Vorstellung schlimmer ist, auseinander gerissen zu werden oder weiter gespannt werden. Es ist so dunkel. Eine dunkle Folterbank aus Holz.
Es gibt nicht mehr viele Reize die etwas auslösen können bei mir. Ich will es einfach nur ausprobieren, vielleicht erhoffe ich mir mehr als es tatsächlich liefert, aber es wäre einfach zu schön wieder in einen geistesabwesenden Zustand zu wechseln.
So was macht man doch nur wenn man einsam ist. Erbärmlich. Was kann man dagegen tun?
Liebe ist einseitig und schmerzt. Wenn er mich lieben würde, würde es mir vielleicht gut gehen. Wenn *Erwin* mich lieben würde, dann wäre meine Welt für immer in Ordnung. Denn ich liebe ihn und kann mir nicht vorstellen jemals für eine andere Person so zu empfinden, wie ich für ihn empfinde.
Es schwächt. Das Leben schwächt mich. Drückt mich nieder. Nur für einen Augenblick, für fünf Minuten, ich will nur für fünf Minuten nicht mehr existieren. Einfach nicht mehr existieren.
Bitte. Es ist zu schwierig.
Ich kann es nicht mehr. Herr S. . Ich bin zu schwach.
Wie schön das wäre zu stoppen. Oder? Sehnen Sie sich nie danach?
Warum lasst ihr mich nicht alle gehen? Ich hätte die schönste Zeit meines Lebens.
Wenn ich jetzt die Erlaubnis bekommen würde, zu gehen, ich würde sofort bei Erwin anrufen und ihm sagen das ich ihn liebe, dann würde ich Sie anrufen Herr S. und Ihnen von meinen Briefen erzählen die Sie bekommen sollen. Und dann könnte ich gehen.
Ähm. ja. Dann hätten wir das auch geklärt.
Ein Kopfschuss ohne Ton und ohne Blut, ohne Knall nur mit viel Schwarz und Himmel und Sternen.
Ich will doch nur umarmt werden.
DU LIEST GERADE
Lieber Herr S.
Non-FictionIch schreibe Briefe an meinen Lehrer die ich nie abschicke. Herr S. begleitete mich durch alle Höhen und Tiefen: Begegnungen mit Polizisten, die Einweisung in die Psychiatrie und der Beginn einer Drogensucht. Die Briefe an ihn haben mich das alles ü...