Schachmatt

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04.03.2020

Lieber Herr S,

Heute habe ich eine Kurzgeschichte für Sie.



Paul

DIENSTAG MORGEN

Der Arzt sagt zu mir das wir uns wieder sehen werden. Früher oder später, nur dass die Umstände dann womöglich schon ernster wären. Er sieht mir dabei in die Augen als würde er an meinem Versagen zehren. Im Schlimmsten Fall erfolgt eine Zwangseinweisung, seiner Meinung nach auch der wahrscheinlichste Fall. Ich will ihm nicht widersprechen. Um ehrlich zu sein will ich nur nach Hause. Meine Augen tun weh und meine Gliedmaßen fühlen sich weich und zittrig an. Die Wartebank in der Notaufnahme war hart gewesen, die Atmosphäre zu unruhig und in eines der freien Betten im Liegebereich wollte ich mich nicht legen, es machte mir Angst.

Somit hatte ich eine der schlimmsten Nächte meines Lebens auf einer harten Bank verbracht, abwechselnd im Liegen und im Sitzen, an Schlaf war nicht zu denken da mein Körper von innen heraus zu verbrennen schien und sämtliche Muskeln an unkontrollierter Anspannung hafteten.

Als der Arzt mit mir spricht merke ich Gott sei Dank noch eine leichte Wirkung der Medizin doch trotzdem macht er mich wütend. Vor ein paar Stunden schien er noch einen ganz vernünftigen Eindruck zu machen, ich war sogar fast so weit zu glauben er will mir tatsächlich helfen. Doch mit ein paar wenigen Sätzen macht er es mir einfach jede Art von Hoffnung die sich zaghaft in mir angebahnt hatte, wieder zu zerstören.

„Ich nehme an Sie wollen gleich nach Hause und nicht zu der Psychiaterin?"

„Sie haben offenbar keine Einsicht, zwanghaft können wir Sie noch nicht hierbehalten."

„Schade, aber ich verspreche Ihnen dass wir uns ganz bald wiedersehen. Es wird nämlich schlimmer werden und dann kommen Sie hier nicht mehr so einfach raus."

Noch während ich stumm nicke und mit knappen Sätzen antworte, werde ich das Gefühl nicht los dass mir dieser Arzt die Worte in den Mund legt. Ich sage genau das was er hören will. Doch zum Glück für uns beide bin ich zu schwach um mir eigene Gedanken zu machen.

Draußen vor dem Krankenhaus, schreibe ich als erstes meinem Kumpel und lasse ihn und damit den Rest unserer Gruppe wissen dass ich heute nicht zur Vorlesung komme weil ich krank bin. Dann antworte ich auf die Nachricht meiner Mutter die wissen wollte ob es mir gut ging, du lässt so selten von dir hören und schicke meiner kleinen Schwester einen Lach-Emoji als Reaktion auf ein vermeintlich lustiges Tierfoto welches sie mir heute morgen, wahrscheinlich kurz vor Schulbeginn, gesendet hat. Ich checke meine E-Mails, die sozialen Netzwerke, der Schein muss bewahrt werden.

Alles soll aussehen wie immer und meistens gelingt mir das ganz gut. Solange eine Normalität nach Außen besteht ist alles Bestens. Im Bus öffne ich schließlich den Befundbericht den mir der Arzt mitgegeben hat und lese ihn zweimal ordentlich durch ohne jegliche Art von Emotionen zu spüren. Ein geistloses Grinsen huscht mir über die Lippen als ich im letzten Absatz lese

„Des Weiteren ist der Patient wenig erfreut über den Fakt, dass die Polizei ihm den Wochenvorrat an Amphetaminen abgenommen hat..."

Bei all den trockenen Fakten konnte es sich der Arzt schlussendlich nicht verkneifen seiner Fassungslosigkeit über meine tragische Figur Ausdruck zu verleihen und bewies dadurch sogar etwas Humor. Vielleicht hatte ich ihn doch unterschätzt.

Ich seufze und falte den Brief wieder zusammen. Es stimmt, ich hatte meine Medizin an die Polizei verloren und das war beunruhigend. Auch wenn ich zu Hause gleich Neues bestellen würde, wäre es frühestens in drei Tagen da und ob das so funktionieren kann weiß ich nicht. Ob ich so funktionieren kann weiß ich nicht.

Lieber Herr S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt