08.09.2019
Lieber Herr S.,
Es hat sich noch nie so leer angefühlt Ihnen zu schreiben.
Ich habe mich in einer Notsituation wiedergefunden und Ihnen geschrieben.
Wissen Sie, das ist wie ein Alkoholiker der nach langer Zeit wieder zur Flasche greift. Ich hatte meine Briefe an Sie. Sie selbst, waren mein Backup das ich im besten Fall nie benutzten würde. Doch die Wahrheit ist, nach vier Jahren musste ich dieses Backup benutzen. Ich habe Ihnen geschrieben und noch in der selben Nacht, habe ich Sie blockiert weil mir bewusst wurde, das Sie mir nicht helfen könnten, das Sie mich vermutlich nicht einmal mehr kennen und das Sie bestimmt genug eigene Probleme hätten. Ich wollte Sie nicht mit reinziehen ist die eine Wahrheit. Die andere Wahrheit ist, das ich Angst vor Ihrer Reaktion hatte. Meine Briefe an Sie haben mich schon oft gerettet und das tun sie immer noch. Ich habe Angst was passiert wenn Sie mich enttäuschen, wenn Sie meine Nachrichten ignorieren oder mir nicht helfen wollen oder können. Ich weiß nicht wie viel von Ihnen ich in meinem Kopf idealisiert habe. Wenn Sie auf meine Nachrichten nicht geantwortet hätten oder was noch schlimmer wäre, nicht wissen würden was ich jetzt von Ihnen wollte dann könnte das zu schlimmen Dingen führen und dieser Brief wäre zusammen mit all den anderen Briefen, nichts mehr wert.
Sie kennen nicht mal die andere Geschichte, die die ich Ihnen noch erzählen wollte.
Es hat geregnet und in meiner Straße stand man bis zum Knie im Wasser. Ich bin rausgegangen, betrunken, mit Sonnenbrille obwohl es schon dunkel war und einer Umhängetasche in der sich ein Messer befand. Weder Handy noch Ausweis noch Geld hatte ich dabei.
Ich war komplett durchnässt als ich in einem Supermarkt ankam, ich weiß nicht mal mehr welcher das war. Ich bin durch die Reihen gelaufen, habe nach irgendetwas gegriffen und dann bemerkt das dort Blut dran ist. Auch auf dem Boden war Blut. Dann habe ich kapiert dass das Blut von mir kam. Meine ganze rechte Hand war Blutüberströmt und ich wusste nicht woher das Blut kam.
Die Sachen die ich aus Versehen angefasst habe und mein Blut dran war hab ich mitgenommen weil ich dachte das ist jetzt auch eklig und will keiner mehr haben. Ich bin zur Kasse gegangen und als ich dran war hatte ich natürlich kein Geld. Ich habe dann nach einem Pflaster gefragt und der Typ hat mir ein paar Tücher gegeben.
Ich bin raus aus dem Laden und in den daneben gegangen. Ich glaube es war ein Aldi. Es waren kaum Leute da, weil die gleich schließen wollten und draußen immer noch dieses Unwetter war. Ich habe auch hier irgendwas genommen und wollte es mitnehmen, hatte aber kein Geld. Dann hat mich die eine Frau rausgeworfen weil ich das (was auch immer das war) geschenkt haben wollte. Ich bilde mir ein die hat mich sogar zwei mal rausgeworfen.
Gegenüber war eine Tankstelle, dort bin ich hingegangen und habe nach einem Pflaster und einer Decke gefragt, weil mir so kalt war.
Die Frau hatte leider nichts da und hat dann ihren Kollegen geholt, der die Polizei gerufen hat, aus welchem Grund genau weiß ich nicht. Ich habe geblutet, ich war betrunken, aber ich habe nichts angestellt.
Er hat gesagt ich soll mich hinten auf die Sitzbank hinsetzen.
Ich habe mich dort hingelegt und wäre fast eingeschlafen, als dann zwei Polizisten reinkamen.
Der eine hat mit dem Personal gesprochen und der andere hat mir etwas grauenvolles in die Nase gesteckt, in dem Moment wusste ich nicht was das ist, es hat schrecklich gebrannt und bis ins Hirn gezogen. Ich hab versucht mich wegzudrehen und seine Hand weg zu schlagen, aber er hat mich festgehalten und ich musste dieses Zeug inhalieren das mich sogar zum heulen gebracht hat. In dem Moment war ich mir nicht mehr sicher ob das überhaupt die Polizei war und hab Panik bekommen weil ich mich so hilflos gefühlt habe.
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Lieber Herr S.
Non-FictionIch schreibe Briefe an meinen Lehrer die ich nie abschicke. Herr S. begleitete mich durch alle Höhen und Tiefen: Begegnungen mit Polizisten, die Einweisung in die Psychiatrie und der Beginn einer Drogensucht. Die Briefe an ihn haben mich das alles ü...