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Plitsch, platsch, so fallen sie zu Boden. Arhythmisch und doch so beruhigend. Seine Schreie untermalten mein Werk. Die roten Tropfen wanderten die dunklen Fugen der sonst so hellen Fliesen entlang. Ist es nicht lustig, dass sonst ich derjenige war, der um Gnade gewinselt hat? Und doch hast du weiter und weiter gemacht. Plitsch, platsch, so tropft es in dem kleinen Abfluss im Boden. Lass uns noch ein bisschen weitermachen, ja?

PoV Seo Changbin:

Ich sah in das ausdruckslose Gesicht des jungen Mannes. Dunkle Augenringe zierten sein Gesicht. Wenn er körperliche Nähe zulassen würde, dann hätte ich ihn einfach in den Arm genommen und ihm gesagt, wie leid es mir tut, was er alles durchstand.

Seit etwa anderthalb Jahren betreute ich ihn. Han Jisung. Mittlerweile war er 24 Jahre alt und Student. "Irgendwelche neuen Verletzungen?", fragte ich und lehnte mich vor. Wie immer schüttelte er nur stumm den Kopf. "Jisung. Zeig sie mir.", sagte ich leise, aber eindringlich. Ohne seinen Blick zu heben, zog er sich den schweren Pullover über den Kopf. Allein sein Oberkörper war mit dunklen Flecken übersäht.

"Was hat er gemacht?", hakte ich noch weiter nach. Er schaffte es eher selten, mir zu antworten. "Hat er dich zusammengetreten?", ich ließ mich an die Stuhllehne fallen. Jisung nickte. "Hast du jemandem Bescheid gesagt?", er schüttelte den Kopf, kaute auf seiner Unterlippe rum, bis sich der Schorf löste und er nervös das frische Blut abwischte.

Dass er sich noch nicht das Leben genommen hatte, grenzte an ein Wunder. Ich hielt ihn für den einsamsten Menschen der gesamten Welt. Die Eltern starben tragisch und niemand konnte die Mauer erklimmen, die er um sich herum gezogen hatte. Und als sei das noch nicht schlimm genug gewesen, erlebte er jeden Tag in der Uni das Grauen: Er war das Opfer einiger unterbemittelter Mitstudenten.

"Sie haben mich in der Klokabine zusammengetreten.", flüsterte er. Emotionen bildeten sich nicht ein Stück in seinem Gesicht ab. "Wie viele?", fragte ich und hoffte darauf, dass er nur eine Sekunde lang in mein Gesicht schauen würde. "Zwei Leute haben zugetreten, zwei andere haben zugeguckt.", erklärte er mit monotoner Stimme.

Ich atmete hörbar aus und schüttelte vor Unverständnis den Kopf. "Mir geht's gut.", versicherte er mir, was ich ihm nicht im Ansatz glaubte. Niemandem würde es in seiner Situation gutgehen.

Ich besuchte ihn einmal die Woche. Ich schaute in der Wohnung nach dem Rechten, versorgte seine Verletzungen, wenn er sie mir denn überhaupt zeigte, versuchte ihn irgendwie dazu zu bewegen, sich einen Psychologen zu suchen. Er lehnte alles ab. Es steckte kein Fünkchen Leben mehr in ihm. Sein Körper funktionierte, aber er war nur noch eine leere Hülle, die geradeso sprechen konnte.

"Jisung, ich... Was ist mit dem Haus?", fragte ich und legte meine Hände in den Nacken. Ein kurzer Blick in meine Augen, dann krümmte sich sein dünner Körper und er machte sich noch kleiner, als er es sowieso schon tat. "Nein..", presste er es aus seinen Lungen. "Aber wieso nicht?", meine Handflächen strichen kurz über meinen Hals und ich verschränkte die Arme vor der Brust. Er schüttelte mit zusammengekniffenen Augen den Kopf.

"Und wenn wir zwei einfach nur mal hinfahren und nach dem Rechten schauen?", probierte ich es weiter. Sein Elternhaus stand seit der Tragödie leer. Würde sich weiterhin niemand darum kümmern, dann würde es bald anfangen, zu verfallen. Zurzeit lebte er in einer winzigen Wohnung. Er hätte im Haus mehr Platz, müsste keine Miete mehr zahlen. Aber die schmerzlichen Erinnerungen ließen es nicht zu, dass er das Gebäude betreten wollte.

"Wie wäre es, wenn wir es so machen: Wir fahren zusammen hin, ich gehe rein und schaue mich um. Und wenn du dich gut fühlst, dann kommst du nach.", schlug ich vor. Eigentlich kannte ich die Antwort schon. Keine Ahnung, was ich in seiner Situation getan hätte.

Da er nicht unhöflich sein wollte, vertröstete er mich mit einem "Mal gucken..". Bei ihm hieß das so viel wie 'nein'. Er konnte es einfach nur nicht sagen. "Hast du abgenommen?", meinte ich, als er sich den Pullover wieder anzog. Seine Rippen waren mehr zu sehen, als sonst. Nervös zog er den dicken Stoff weiter nach unten und wich meinem Blick aus. "Soll ich uns 'ne Pizza holen?", bot ich an und sogleich betonte er, dass er noch von seinem Mittag satt sei.

"Was hast du denn gegessen?", ich ließ nicht locker. "Reis mit Gemüse.", antwortete er so schnell, dass ich es ihm fast geglaubt hätte. Er kratzte sich angespannt am Hals. Er konnte mir nichts vormachen. "Also ich bestelle mir jetzt eine Pizza her. Bis sie da ist, kümmern wir uns um deine Post und planen den Einkauf. Und wenn sie dann da ist und du Hunger bekommen hast, dann teile ich ausnahmsweise mit dir.", zwinkerte ich ihm zu.

Wir hatten auch den letzten Brief geöffnet und ich hatte Jisung dabei geholfen, den Abwasch zu machen. Die getrockneten Essensreste auf den Tellern ließen mich darauf schließen, dass er mindestens zwei Tage lang nichts gegessen hatte. "Wie läuft es denn im Studium?", fing ich einfach eine bescheuerte Konversation an. "Gut.", sagte er und räumte die Teller in den Schrank. Keine Ahnung, wie es tatsächlich für ihn lief.

"Was willst du nach deinem Studium denn dann eigentlich machen?", stellte ich ihm die nächste Frage und hoffte, mehr als nur ein Wort erwidert zu bekommen. So tickte er eben. Er sagte immer so wenig wie möglich. Ich kannte seine tragische Geschichte, aber ich kannte ihn nicht. Vermutlich, weil er sich selbst nicht kannte.

"Ich möchte Filmmusik komponieren.", verharrte er für einen Moment in seiner Position. "Filmmusik?", vergewisserte ich mich. Er nickte und sortierte weiter das Geschirr ein. "Wieso ausgerechnet Filmmusik?", ich drückte den noch nassen Schwamm in den Mülleimer und drehte mich zu ihm. "Die Musik in Filmen lässt doch erst alles lebendig werden. Sie unterstreicht, sie betont, sie lenkt den Fokus auf etwas. Sie bringt Gefühle hervor. Sie bewegt.", brachte er mich zum Staunen. Er sagte nicht nur ungewöhnlich viele Worte, er sagte es aus seinem Herzen heraus, was mich kurz verstummen ließ.

Erneut saßen wir an seinem kleinen Tisch, der Karton mit der Pizza zwischen uns. "Nimm doch jetzt endlich ein Stück!", meckerte ich ihn an, doch er tat es nicht. Während ich gerade dabei war, einen langen Faden aus Käse in den Mund zu ziehen, klingelte mein Handy. "M-Hm?", machte ich und hoffte, dass der Anrufer mich gehört hatte.

"Hey, wir haben hier eine Krise. Kannst du herkommen?", dröhnte es nervös durch den kleinen Lautsprecher. Sofort schob ich den Stuhl nach hinten. Ich wusste schon, um was es ging. Krise bedeutete meistens, dass jemand sich selbst oder jemand anderen verletzen wollte.

Mit dem angebissenen Stück Pizza zwischen den Zähnen, schnappte ich mir meine Jacke und lief zu meinen Schuhen. "Jisung, ich habe einen Notfall. Ich rufe dich morgen an und wir sprechen nochmal, wann wir zum Haus fahren!", rief ich ihm zu. "Aber.. Herr Seo-", wollte er mich verunsichert umstimmen, jedoch tat ich einfach so, als hätte ich ihn nicht gehört. "Lass' dir die Pizza schmecken!", und schon schlug ich die Tür hinter mir zu. 

The Decay - Han Jisung | Seo ChangbinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt