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PoV: Changbin:

Was gerade passierte, konnte ich kaum glauben. Jisung sprach ganze Sätze! Und er hatte sogar einmal einfach so von sich aus gesprochen, als er mir das Foto zeigte! Ich tat so, als wäre alles normal, während ich innerlich vor Freude ausrastete.

Jisung ging voran in das nächste Zimmer. Ein großer Raum, der sich in Ess- und Wohnbereich aufteile. Was hatte er vorhin gesagt? Fünf Zimmer solle es hier geben. An einem kleinen Raum waren wir vorbeigegangen, ohne dass ich hineinsah.

Von dem großen Raum aus konnte man in die halboffene Küche gelangen. Sie bestand aus übermäßig vielen offenen Einbauschränken und grenzte an den Essbereich. Ein hölzerner Tisch mit vier Stühlen daran lud früher bestimmt zu gemeinsamen Mahlzeiten ein.

Jisungs Finger fuhren über die Arbeitsfläche der Küche und rieben sich anschließend aneinander, um den Staub loszuwerden. Knapp anderthalb Jahre war niemand hier drin. Es war alles so, wie die Eltern es damals hinterlassen hatten. Nur staubiger. Und obwohl ich genau wusste, dass niemand mehr hier war, so spürte ich trotzdem die Liebe, die hier früher geherrscht haben musste.

Jisungs müder Blick suchte alles ab. Er schlich zum Sofa, schüttelte vorsichtig eines der Kissen auf und platzierte es wohl an der für ihn richtigen Stelle. "Das Sofa hatten wir damals erst gekauft.", meinte er und ich lächelte ihn an. Ich hätte ihm am liebsten so viele Fragen gestellt, aber ich konnte nicht wirklich einschätzen, wie gern er sich über all das hier unterhalten wollte. Ich musste mich langsam vortasten.

Wir gingen zurück in den Flur. Ich zeigte stumm auf den kleinen Raum, an dem wir vorhin vorbeigegangen waren. "Da ist der Vorratsraum. Und die Waschmaschine.", erklärte er mir und schritt zur Tür. Er zog sie langsam auf und schaute zu mir. Er hielt Blickkontakt! Ich wollte so gern vor lauter Begeisterung in die Hände klatschen! Stattdessen ging ich langsam auf die Tür zu und schaute in den kleinen Raum. In dem Regal an der Wand waren einige Konserven, verschiedene Putzmittel und Kleinkram.

Jisung drehte sich um 180° und ging von mir weg. Im Flur war eine Art Nische, in der die Garderobe war. Eine schmale Tür führte in das Gäste-WC, wie ich feststellen konnte, nachdem er auch diese geöffnet hatte.

Zurück in der Mitte des Flurs schaute ich mir die Treppe an. Sie führte sowohl nach oben als auch nach unten. Sie war platzsparend mit mehreren Wendungen verbaut. Jisung legte seine Hand auf das Geländer und hielt inne. Sein Blick senkte sich, er fixierte seinen Fuß, der sich wohl einfach nicht vom Boden lösen wollte.

"Stress' dich nicht, wir haben Zeit.", versuchte ich ihn zu bestärken und tatsächlich sah er mir in die Augen und nickte. Er nahm einen tiefen Atemzug und setzte den nächsten Fuß auf die Treppe. Ganz langsam bahnte er sich seinen Weg ins Obergeschoss. Ich folgte ihm mit etwas Abstand.

Der winzige Flur in der oberen Etage bot geradeso genug Platz für die vier Türen in die übrigen Zimmer. Jisung hielt an und drehte sich nachdenklich von links nach rechts. "Badezimmer, Schlafzimmer, mein Zimmer und Papa's Lesezimmer.", zählte er ruhig auf. Ich blieb weiterhin auf der vorletzten Stufe stehen und überließ ihm die Entscheidung.

Er öffnete die Tür ganz links und führte mich somit in ein großes Badezimmer. Wieder suchten seine Finger sich wie von selbst etwas, was sie berühren wollten. Sie rieben sich an dem kleinen Handtuch am Waschbecken. Sein Blick blieb an einem kleinen Glasfläschchen hängen. "Mama's Parfum.", flüsterte er und nahm es in die Hand. Er schloss seine Augen und roch zögernd an dem oben aufgesetzten Zerstäuber. Seine Augen waren glasig, als er sie wieder öffnete. Ich fragte mich, welche Gedanken und Erinnerungen wohl in seinen Kopf geschossen waren.

Er kam langsam auf mich zu, legte vorsichtig seine Hand auf meine Schulter und schob mich behutsam an. "Erstmal gegenüber rein.", meinte er und zeigte über den Flur. "Papa's Lesezimmer?", fragte ich und ging voran. "Jap.", bestätigte er mir kurz meine Frage, dann drückte ich die Türklinke nach unten.

Ein fast leerer Raum. Ein breites, hohes Regal füllte die halbe Wand aus, weiter war nichts hier drin. "Es ist nicht fertig geworden. Hier sollte noch ein Sessel rein und ein kleiner Tisch. Mein Vater hat es geliebt, zu lesen.", gab Jisung mir über den eigentlichen Plan seines Vaters Bescheid.

Unzählige Bücher standen in den Regalböden und mehrere hohe Stapel warteten hier seit Ewigkeiten darauf, endlich ihren Platz zu beziehen. "Liest du auch gern?", fragte ich neugierig. Ich wusste so wenig über ihn. "Früher habe ich ganz gern gelesen, aber.. Heute mache ich es irgendwie gar nicht mehr.", lächelte er mich schwach an und drehte dann um.

Mein Schützling zog eine Tür weiter, die er ausnahmsweise ohne Zögern öffnete. "Das ist mein Zimmer.", begann er und stellte sich neben das hellbezogene Doppelbett. Ich trat ein und spürte den weichen Teppich unter meinen Schuhen. "Mist, wir haben noch Schuhe an!", fluchte ich über mich selbst. "Naja, unsere Socken wären ja sonst auch schwarz geworden.", lachte Jisung. Es war das erste mal, dass ich ihn lachen sah. Sein Lachen war so ansteckend.

"Ich habe meine Eltern zu dem großen Bett überreden müssen.", erklärte er und sah auf das fluffige Kopfkissen hinab. "Wieso?", fragte ich höchst interessiert. "Na, du weißt schon.. Junger Mann, großes Bett...", redete er drumherum. Ich lachte ihn an: "Als ob sowas nicht auch in einem kleinen Bett funktionieren würde!". Seine Wangen wurden rot und er wich schmunzelnd meinem Blick aus.

Der Schreibtisch, der an der Wand stand, war chaotisch. Schien wohl einfach seine Art zu sein. Auch die Schiebetür seines Kleiderschrankes stand offen und man konnte unordentlich gefaltete Kleidung sehen. "Wieso sind noch so viele Klamotten von dir hier?", bemerkte ich. Er warf einen kurzen Blick in den Schrank und erklärte: "Ich sollte damals nur das Wichtigste mitnehmen. Und in dem Moment wusste ich nicht, was denn alles wichtig sein würde. Also habe ich das meiste hier gelassen.".

"Willst du überhaupt nach nebenan?", fragte ich ihn, als er wieder auf den kleinen Flur trat. Er nickte zwar, stand aber wie angewurzelt vor mir. Ich hätte nur zu gern eine Hand auf seine Schulter gelegt, aber ich wusste, dass er Berührungen kaum ertragen konnte. Ich wartete geduldig ab, bis er schließlich soweit war.

Er öffnete die Tür, steckte den Oberkörper hindurch, ohne einen Fuß auf den Teppich zu setzen, dann überlegte er. "Lass uns bitte hier die Schuhe ausziehen.", murmelte er leise und schlüpfte auf seinen weißen Turnschuhen. "Soll ich überhaupt reinkommen? Ich kann auch hier in der Tür stehenbleiben.", schlug ich ihm vor, doch er meinte, ich könne ruhig eintreten.

Ein seltsames Gefühl zog sich durch meinen Bauch. Erst jetzt realisierte ich, wo ich stand. Es fühlte sich so bedrückend an, in das Schlafzimmer zu sehen. Ich schaute auf das Bett und überlegte, dass hier niemals mehr jemand drin schlafen würde. Ein leichter Schauer zog über meinen Rücken. Plötzlich kam Jisung auf mich zu und schob mich nach draußen. Er zog eilig die Tür ran und steckte nacheinander die Füße in die Schuhe. Es war ihm zu viel und ich konnte es vollkommen verstehen.

Er rannte förmlich die Treppe hinunter, hielt dann aber doch wieder an. "Sorry.", entschuldigte er sich flüsternd, obwohl es nichts gab, wofür er sich entschuldigen musste. "Schon okay! Willst du gehen?", bot ich ihm an und zeigte auf die Haustür. "Ist ja nur noch der Keller.", meinte er und nahm die ersten Stufen nach unten. Ich schlenderte hinter ihm her.

Weiße Fliesen. Auf dem Boden und an den Wänden. Ein paar Rohre verliefen auf den Wänden. Mein Schuh blieb in dem Abflussgitter hängen, was im Boden eingelassen war. "Soweit ich weiß, sind die Räume leer.", erklärte Jisung. "Wolltet ihr einen Folterkeller einbauen?", fragte ich scherzhaft und erntete einen ausdruckslosen Blick. Ich verdrehte kurz die Augen und erklärte: "Das war ein Witz. Ich meinte ja nur, weil hier alles von oben bis unten gefliest ist und dann noch diese komischen Abflüsse im Boden..". Er zeigte keine Reaktion auf meine Worte, also entschuldigte ich mich: "War noch zu früh für Witze, oder?". "Ja, glaube schon.", antwortete er und steckte den Kopf durch die erste Tür.

"Kartons und Kisten.", berichtete er mir, zog zur nächsten Tür und wiederholte sein tun. "Hier drin ist gar nichts.", sagte er und ging zur letzten Tür: "Ein überdimensional großes Regal. Es ist lauter altes Werkzeug drin.". Er zog die Tür zu und eilte zur Treppe. "Wieder hoch?", fragte ich überrascht. "Ja, hier ist nichts. Und ich mag Keller nicht. Die sind irgendwie spooky.", meinte er und ging schnellen Schrittes nach oben. Ich konnte es mir nicht nehmen lassen, wenigstens in den Raum mit dem großen Regal zu schauen. Wie er es schon gesagt hatte, war der Raum sonst leer. Was auch immer man mit so einem riesigen Regal tun wollte.

Wir schlossen die Haustür ab und schlenderten durch den urwaldartigen Vorgarten zu meinem Wagen. "Und?", fragte ich nach seinen Gedanken. Er überlegte, während seine Augen die Bäume absuchten: "Hab damit gerechnet, dass ich heule. Aber irgendwie war es schön. Es fühlt sich nach Zuhause an..".

The Decay - Han Jisung | Seo ChangbinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt