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Ich stand an der schmalen Straße und wartete, dass ich Herr Seos Auto kommen sehen würde. Ich weiß wirklich nicht, wieso ich mich auf all das einließ. Vermutlich, weil es für mich erträglicher war, all die grausamen Gefühle durchzustehen, als jemand anderem zu sagen, was ich wirklich dachte.

Laute Musik war zu vernehmen und ich sah das kleine, schwarze Auto auf mich zukommen. Es hielt neben mir an und die Musik wurde leiser gedreht. Mit dem Ärmel über die Hand gezogen, öffnete ich die Tür der Beifahrerseite. Wortlos setzte ich mich auf den gepolsterten Sitz.

"Na? Aufgeregt?", begrüßte er mich und fuhr los, bevor ich mich umentscheiden und doch wieder aussteigen konnte. "Nein.", log ich ihn an. "Wie war die Uni?", hakte er gleich weiter nach. "War okay.", meinte ich. Ich erzählte ihm nie von mir aus von den Vorfällen mit Eunji. Ich wollte einfach nicht darüber sprechen. Ich wollte es einfach verdrängen. Niemand hätte etwas an der Situation ändern können, auch nicht Herr Seo.

Sein Blick wanderte kurz prüfend zu mir. Ich starrte rührungslos auf meine Knie. Mein rechtes Bein begann angespannt zu wippen. Ich konnte es nicht verhindern. "Irgendwelche Vorfälle?", bohrte er weiter. Mein Hals verengte sich. Ich wollte ihn nicht anlügen. "Nichts Wildes.", beruhigte ich ihn mehr schlecht als recht. Seine Hände quetschten das Lederlenkrad zusammen.

"Jisung, hast du schon mal darüber nachgedacht, die Uni zu wechseln?", er schaute kurz zu mir, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Straße. Natürlich hatte ich darüber nachgedacht. Aber ich hatte einfach nicht genug Kraft, um mich nach einer neuen Uni oder Wohnung umzusehen. Ich hatte keine Kraft für irgendwas. Ich schaffte es ja geradeso, mich von den ganzen Verletzungen zu erholen.

"Wie viele Zimmer hat das Haus?", fragte er mich, griff nach der Dose in der Mittelkonsole und trank einen Schluck. "Küche, zwei Bäder, fünf Zimmer und einen Keller.", zählte ich so knapp wie möglich auf. Eigentlich unterhielt ich mich gern mit ihm, aber ich war so erschöpft. Ich würde mich bestimmt besser mit ihm verstehen, wenn es mir nicht so beschissen ginge.

Ich mochte Herrn Seo schon irgendwie. Er war ehrlich. Ich hatte das Gefühl, dass er sich nicht nur um mich kümmerte, weil es sein Job war. Er machte sich wirklich Gedanken um mich. Wäre ich nicht so unglaublich müde, dann würde ich ihm unendlich viele Fragen stellen. Ob er eine Frau hatte, wie er lebte, was seine Hobbies sind. Aber es kostete mich schon so viel, ihm überhaupt zu antworten.

Herr Seo begleitete mich schon über ein Jahr. Er war für mich da, nachdem man mir gesagt hatte, dass meine Eltern tot sind. Er hatte mir damals auch die kleine Wohnung besorgt, in der ich gerade Tag für Tag vor mich hin vegetierte. Er hatte mir geholfen, die wichtigsten Dinge dort unterzubringen. Er hatte sich um meinen Studienplatz gekümmert. Er ging einmal die Woche für mich einkaufen, um sicher zu sein, dass ich etwas zu Essen hatte. Er öffnete meine Post und kümmerte sich darum, dass meine Rechnungen bezahlt waren. Er hatte sich darum gekümmert, dass alles mit dem Erbe klappt.

Er gab sich große Mühe, herauszufinden, was in mir vorging. Ich hatte lange für mich behalten, was Eunji mir alles antat. Eines Tages, als er die Wäsche für mich anstellen wollte und mich darum bat, den Pullover, den ich trug, noch mit in die Waschmaschine zu stecken, sah er die blauen Flecken auf meinem Körper. Ich wollte nicht, dass er sie sah. Als ich den Pullover auszog, rutschte mein Shirt mit nach oben und gab mein gut gehütetes Geheimnis preis.

Er blieb damals so ruhig, obwohl es innerlich wohl ganz anders in ihm aussah. Ich bin an diesem Tag das erste und einzige mal vor ihm zusammengebrochen. Ich wollte nicht, dass er sich Sorgen um mich machte und so schwor ich mir, all meine Emotionen zu begraben.

"Wir müssten gleich da sein, oder?", meinte er und wischte auf dem Display seines Handys herum. "Ja, da hinten ist es.", sagte ich leise und wies mit dem Zeigefinger auf eine Seitenstraße. Er bog ab und wir folgten dem geteerten Weg. Die Umgebung verdunkelte sich durch die vielen hohen Bäume, die hier standen. Als Kind schaute ich immer nach oben, wenn ich hier langlief. Es faszinierte mich, wie die Sonne sich ihren Weg durch das dichte Blätterdach suchte.

"Wo ist es denn?!", fragte er verwirrt. Die Straße war ziemlich ruhig. Die Häuser hier standen in großem Abstand zueinander. Unser Haus war das Letzte in der Reihe und hatte einen riesigen, dicht bewachsenen Garten um sich herum. Ein hoher Zaun aus Stein und Stahl sorgte zusätzlich für Schutz. Als Kind mochte ich es nicht, dass wir so abgeschottet waren. Erst, als meine Mutter sagte, dass wir in einem Märchenwald lebten, in dem man sich toll verstecken konnte, sah ich all das mit anderen Augen.

Wortlos zeigte ich auf eine Stelle vor dem hohen Zaun. Feuchte Laubblätter hatten sich überall gesammelt. "Hier soll ich parken?", stutzte er und ich nickte. Ein kurzer Blick nach vorn, dann öffnete ich die Autotür und stieg aus. "Hey, warte auf mich!", rief er mir nach und stellte fast schon panisch den Motor ab.

Ich schob das quietschende Gartentor auf und trat auf den mittlerweile zugewachsenen Steinweg. Dicke Brocken aus Moos fraßen sich durch alle Lücken und Ritzen. Meine Beine schoben dünne Äste und unzählige Blätter zur Seite, während sich meine Füße wie von selbst den Weg zum Haus suchten. Ich streckte meinen Arm leicht zur Seite und ließ das Gestrüpp am Rand des Weges meine Handfläche kitzeln.

Kurz vor der kleinen Treppe hielt ich an und drehte mich nach hinten um. Herr Seo fuchtelte mit seiner Hand vor seinem Gesicht rum und schimpfte: "Scheiß Spinnenweben!". Mein Mundwinkel zuckte kurz, bevor mein Gesicht wieder ausdruckslos wurde. Herr Seo kramte in seiner Hosentasche und klimperte anschließend mit den Schlüsseln in seiner Hand.

Er blieb neben mir stehen und sah genau wie ich an der Fassade entlang. Sanft legte sich seine Hand auf meine Schulter, was mich zusammenzucken ließ. Meine Schultern zogen sich zusammen. "Sorry.", flüsterte er. "Schon okay.", versicherte ich ihm. Mein Blick zog von links nach rechts. Die Fenster waren dreckig. Regen, Schnee und verrottende Blätter hatten sie mit einer nicht definierbaren Schicht überzogen. Immerhin waren sie noch heile.

Ich schlich die Treppe hinauf und blieb vor der Haustür stehen. Das dunkle Holz war von Spinnenweben übersäht. Meine Hand glitt zur Türklinke, doch dann konnte ich mich nicht bewegen. Ich war wie versteinert. Tränenflüssigkeit sammelte sich in meinen Augen. "Soll ich?", fragte Herr Seo, der sich an mir vorbeilehnte. Ich nickte, während ich den dicken Kloß in meinem Hals herunterwürgte.

Er wartete geduldig, bis ich endlich in der Lage war, ihm Platz zu machen. Dann steckte er nach mehreren Anläufen den Schlüssel in das Türschloss. Mit einem lauten Klacken schob sich der Riegel zur Seite und er konnte die Tür nach innen aufschieben.

Herr Seo ging voran. Ich hob meinen Fuß über die Türschwelle und drückte all die Gefühle, die gerade in mir aufkommen wollten, wieder nach unten. Leise schloss ich die Haustür hinter mir. Ich nahm einen tiefen Atemzug. Es roch nach Staub. "Wie lange ist es her, dass du hier warst?", erkundigte sich meine Begleitung bei mir. "Keine Ahnung.", gab ich ehrlich zu. Ich war mir gerade nicht sicher, ob es Tage oder Jahre her war. Die dicke Schicht aus Staub sprach jedoch für eine lange Zeit.

Zaghaft setzt ich einen Fuß vor den Anderen. Zuhause. Ich war in meinem Zuhause. Aber es war so unglaublich still. Entgegen meiner Erwartungen, war ich ebenfalls unglaublich ruhig. Es fühlte sich so falsch an, nicht in Tränen auszubrechen. Wäre es nicht angebrachter, jetzt einen Nervenzusammenbruch zu haben? Müsste ich mich nicht eigentlich weinend auf dem Boden krümmen, weil ich gerade erneut den Verlust meiner Eltern vor Augen geführt bekam?

Schweigend ging ich zu den Bilderrahmen, die an der Wand hingen. Ich strich vorsichtig mit meinen Fingern den Staub von dem dünnen Glas. Ich wusste genau, was für Fotos hier hingen. Es waren Familienfotos. "Meine Eltern.", sagte ich und drehte mich zu Herrn Seo um. Er kam zu mir und beäugte das Bild. Er sagte nichts, er lächelte nur schwach.

"Wollen wir uns umsehen?", fragte er, nachdem er zwei Schritte von mir wich. "Ja.", sagte ich und blickte die Treppe hinauf. "Erst nach oben oder lieber erst hier unten?", fragte er, was er mit einer Zeigebewegung unterstützte. "Lieber erst hier unten. Oben sind die Schlafzimmer.", bestimmte ich und schritt durch die Tür nach nebenan. 

The Decay - Han Jisung | Seo ChangbinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt