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Ich lag hellwach in meinem Bett. Ich war zwar bis aufs Letzte erschöpft, aber dennoch kreisten meine Gedanken um den heutigen Tag. Es war seltsam, wieder in unserem Haus zu sein und trotzdem tat es mir irgendwie gut. Trotz der tragischen Ereignisse, gab unser Haus mir ein Gefühl von Geborgenheit. Es war eben noch immer mein Zuhause.

So viele Erinnerungen kamen mir in den Kopf. Momente aus meiner Kindheit, aus meiner Jugend. Unbeschwerte Zeiten, in denen ich lachend durch den riesigen Garten getollt bin. Ich war ein glückliches Kind. Auch in meiner Jugend hatte ich quasi keine Auseinandersetzungen mit meinen Eltern oder dämlichen Freunden. Es war alles so schön. Und nun lag ich hier und fürchtete mich schon jetzt vor Montag. Vor Eunji.

Sollte ich wirklich in das Haus meiner Eltern ziehen? Ich hätte mehr Platz, mehr Ruhe. Ich hätte einen Garten. Ich müsste keine Miete bezahlen. Ich müsste zwar mit der Bahn zur Uni fahren, aber das wäre in Ordnung. Jetzt, wo ich das Haus gesehen hatte, wollte ich nicht, dass es verfällt. Aber würden mich die ganzen Erinnerungen vielleicht kaputt machen? Ich sollte nochmal mit Herrn Seo darüber sprechen.

Ich erinnerte mich an seinen Witz von vorhin: Ob wir einen Folterkeller einbauen wollten. Zumindest wüsste ich sofort, wen ich dort einsperren würde. Wie leicht ließ sich Blut eigentlich abwaschen? Wie lange war es nachweisbar? So schnell wie möglich verbannte ich diese dunklen Gedanken aus meinem Kopf. Zumindest für die nächsten paar Minuten.

*********

Müde fuhr ich mit meinem Fahrrad zur Uni. Der Wind blies mir kalt ins Gesicht und ich versteckte meine Hände in meinen Ärmeln. So wie jeden Morgen schloss ich mein Fahrrad am Ständer fest und versuchte so unauffällig wie möglich in das große Gebäude zu kommen. Ich wollte mich heute allerdings so lange wie möglich verstecken und erst in letzter Sekunde in den Vorlesungssaal huschen.

Ich überlegte, wo ich am schlauesten hin sollte. Mit Sicherheit nicht aufs Klo, denn dort hatte ich erst letztens das Vergnügen mit Eunji und seinen Kumpanen. Meine Füße trugen mich wie von selbst zu der steinernen Treppe, also schlurfte ich die Stufen nach unten in den Keller.

Es war so düster, ich konnte kaum etwas erkennen. Das war gut, denn so konnte auch mich niemand erkennen, richtig? Ich hockte mich an die Wand und schaute auf die Uhr. Noch knapp zwanzig Minuten, bis meine erste Vorlesung startete. Ich zog mein Handy aus der Tasche und schickte Herrn Seo eine Nachricht, ob wir uns die Tage treffen könnten.

Ich hatte mich dagegen entschieden, in mein Elternhaus zurückzukehren. Es war einfach zu groß für mich allein, es war zu viel Arbeit und es waren zu viele Erinnerungen an die Vergangenheit. Ich wollte es lieber verkaufen, sodass es eine andere Familie glücklich machte.

Ich schob mein Smartphone zurück in meine Hosentasche. Dann hörte ich leise Geräusche aus dem Gang neben mir kommen. Versteckte sich hier etwa noch jemand? Ich war bestimmt einfach nur paranoid. Nochmals fischte ich mein Handy aus der Tasche und schaltete die Taschenlampe an.

Das Blut in meinen Adern gefror augenblicklich. "Hey! Was soll der Scheiß?!", schrie er mich an und schubste die junge Frau leicht zur Seite, der er gerade noch die Zunge tief in den Rachen geschoben hatte. Er stürmte wütend auf mich zu. Ich wollte aufstehen und weglaufen, da war er schon vor mir angekommen.

"Sieh an, sieh an! Mein kleiner Kumpel lauert mir auf! Bist du ein scheiß Perverser oder wieso hast du uns beim Knutschen beobachtet?", warf er mir vor und zog mich an meiner Jacke in den dunklen Gang. "Eunji, wer ist das?", fragte das Mädel unsicher. "DAS, meine Hübsche ist Jisung. Mein allerbester Freund in der ganzen weiten Welt!", grinste er sie an.

"Es tut mir leid! Ich wusste nicht... dass du hier bist!", stammelte ich. Der Angstschweiß stand auf meiner Stirn. Er drückte mich zu Boden, drehte mir den Arm auf den Rücken. "Hast es wohl schon vermisst, dass ich dir eine reinschlage, huh?", sagte er bedrohlich und voller Vorfreude. Meine Augen wurden feucht.

"Eunji, lass mich bitte gehen!", wimmerte ich unter ihm. "Oh, na klar! Sorry! Komm, ich helfe dir auf.", sagte er und ließ von mir ab. Er hielt mir seine Hand entgegen, doch ich traute ihm nicht. Ich stemmte mich vom kalten Boden ab, drehte mich zur Seite und machte den ersten Schritt von ihm weg. Den Zweiten. Den Dritten.

Ich hörte sein schrilles Lachen und schon trat er mir den Fuß weg, sodass ich hart auf den Boden aufschlug. "Hast du echt gedacht, ich lasse dich davonkommen, du scheiß Schwuchtel?", meinte er und platzierte seinen Fuß auf meinem Hinterkopf. Ich sah noch den Schatten der jungen Frau, wie sie an uns vorbeihuschte. "Eunji, du bist echt krank!", schrie sie ihn an, dann war sie weg. Und er war noch wütender.

"Ach, Jisung. Du hast mir mein Date versaut! Ich hätte sie echt flachlegen können!", schob er mir die Schuld zu. Seine Schuhsohle löste sich von meinem Kopf und ich zog schnell meine Beine unter den Körper. Der erste Tritt traf mich an meinem Unterarm, den ich schützend mit meiner anderen Hand an mich presste. Leider machte ich ihm so Platz in meiner Magenkuhle.

Genau dort vergrub sein Schuh sich nun tief in meinen Innereien. "Eun-", wollte ich ihn aufhalten, da trat er schon erneut zu. Magensäure schoss in meine Speiseröhre und ich fing an zu husten. Er packte mich an den Haaren und zog meinen Kopf nach hinten, nur um ihn dann mit voller Wucht auf den Boden zu rammen. Alles drehte sich, ich konnte nichts mehr erkennen.

"Wärst du doch bloß niemals geboren worden, Han Jisung!", schrie er mich an. Er packte meinen Arm und zog daran, bis mein geschwächter Körper auf dem Rücken lag. Er setzte sich auf meinen Bauch und holte aus. Seine Faust schlug mir gegen den Unterkiefer, welcher ein ungesundes Knacken von sich gab. Ich schmeckte Blut.

Verzweifelt versuchte ich ein letztes mal, meine Hände schützend vor mich zu halten. Keine Chance. Der nächste Schlag traf mich ins Gesicht. Erneut packte er meine Haare, zog meinen Kopf nach vorn und schleuderte ihn nach hinten. Ich verlor das Bewusstsein.

Mein Unterbewusstsein wünschte sich, dass ich einfach nicht mehr aufwachen würde. Es wünschte sich, dass all das endlich ein Ende hatte. Ich hatte niemanden, der mich liebte. Nicht mal jemanden, der sich für mich interessierte. Ich war allein.

Ich konnte das einfach nicht mehr. Jeden Tag in dieser Angst leben. Mich jeden Tag verstecken und am Ende doch von ihm gefunden werden. Diese Schmerzen, diese unerträglichen Schmerzen. Ich wollte, dass es endet. Ich wünschte mir so sehr, dass er tot ist. Dass er elendig verreckt. Dass ihm niemand zu Hilfe kommt, so wie mir, dem gerade auch niemand half. Währenddessen prügelte Eunji noch weiter auf meinen regungslosen Körper ein und ließ mich dann einfach so zurück. Wie ein Spielzeug, was man weggeworfen hatte.

Hass. Purer Hass war das, was ich für diesen Menschen empfand. Ich hatte ihm nie etwas getan. Ich hatte ihn nicht einmal schief angeguckt! Ich war doch einfach nur ein einsamer Mensch, der sein verschissenes Leben halbwegs auf die Reihe kriegen wollte!

Aber nein, er wollte wohl einfach der ganzen Welt zeigen, wie geil er ist. Wie stark, wie furchteinflößend. Wer weiß, was er zu kompensieren versuchte, dass er all seine Wut an mir ausließ. Wenn ich einmal die Gelegenheit hätte, ihm all das zurückzuzahlen. All die Schmerzen, all die Angst, all die Erniedrigung. Ich würde es tun.

Ich würde ihm weh tun, würde ihn leiden lassen. Ich würde ihn behandeln wie das letzte Stück Dreck, welches er war. Ich würde ihm keine Gnade entgegenbringen. So, wie er es immer mit mir getan hatte. Er ließ mich darum betteln, endlich von mir abzulassen. Nur, um dann doch noch weiterzumachen.

Ich kam irgendwann endlich wieder zu mir. Unter meinem Kopf hatte sich eine dunkelrote Pfütze ausgebreitet, die mittlerweile kalt war. Mein gesamter Körper schmerzte. Alles drehte sich. Aber da war noch mehr. Da war dieser Wunsch, ihm endlich auch einmal wehzutun. Endlich Rache an ihm zu nehmen.

Ich erkannte mein Handy in der Dunkelheit des Kellerganges und robbte darauf zu. Nur noch ein Stückchen. Tränen flossen unaufhaltsam über meine Wangen. Endlich bekam ich das Gerät zu fassen. Ich entsperrte den gesplitterten Bildschirm und wollte die Nummer von Herrn Seo wählen. Doch dann nahm ein anderer Plan in meinem Kopf mehr und mehr Form an.

The Decay - Han Jisung | Seo ChangbinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt