Sturm der Magie

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Sturmwolken vermischen sich in weiter Ferne zu einem kunstvollen Gebilde. Rattus Rattinger hockt auf dem Dach und sieht zum Horizont. Sein Blick wandert über die zahlreichen Häuserdächer, zur Stadtmauer und verweilt schließlich beim Reich des Waldes. Unter ihm scheinen die Magielosen den aufziehenden Sturm nicht kommen zu sehen, der über diese Gefilde herfallen wird.
  Ginge es nach ihm, so würde der Sturm die gesamte Stadt vertilgen und irgendwo in den unteren Räumen ausspucken. Magielose sind anders - schlechter. Schwach, ungerecht und sündhaft. Trotzdem beheimatet Stolz, Übermut und Überheblichkeit ihre Herzen. Das darf so nicht weiter gehen!
  Düsterer und düsterer wird das Gebilde mit jeder weiteren Wolke. Eine Brise umweht Rattinger, spielt mit der roten Hahnenfeder seines Hutes und zieht leicht an seinem Ziegenbart. Wagenräder rattern unter ihm über das Pflaster, zahlreiche Stimmen verschwimmen zu einem monotonen Säuseln. Donner brüllt zum Angriff. Der Sturm zieht die Wolkenfestung zur Stadt und bringt den harzigen Duft des Waldes in diese nach Pisse stinkenden Straßen. Es ist Zeit.
Rattinger lässt sich vom Dach fallen, Knacken ertönt unter seinen Langschaftstiefeln. Braune Kakerlakenmasse quillt darunter hervor. Als wäre nichts geschehen, streift er die Eingeweide des Insekts an einem Pflasterstein ab. Zerquetschen wird er diese fetten magielosen Maden. Magie beherrscht diese Welt.
  Drei Magielose kommen ihm in der vorher menschenleeren Gasse entgegen. Ein haariges Ungetüm führt sie an, dessen schwarzer Bart zu Zöpfen geflochten ist. Allerlei Krakeleien von Schiffen und Schwertern prangen auf seinen blanken Armmuskeln. Immer wieder zupft der Musikus an seiner Harfe und sieht erwartungsvoll zu seiner Angebeteten, ohne jemals erwidert zu werden. Einzig und allein nach des Ungetümes Aufmerksamkeit sehnt sie sich. Verträumt streicht sie sich ihre schwarzen Strähnen von der Wange. Erst bei den Worten ihres Liebsten zieht sie ihr Haupt ein, als fürchte sie einen Angriff. Gesprächsfetzen dringen an Rattingers Ohr. „Im Hafen hat's wieder einen erwischt. War fischen, bevor dieser Lumpensammler aufkreuzte", sagt der Musikus, während er weiter auf seiner Harfe herumzupft.
  „Scheußlich, pfählen sollte man sie all'samt", sagt das Ungetüm und trottet mit seinem Gefolge an ihm vorbei. Rattinger folgt ihnen.
  „Scht! Wenn dich einer hört?!", zischt die Magielose.
  „Und wenn schon! Die Stabwedler bepissen sich auch nich' vor so'n mickrigen Magiewesen", erwidert das Ungetüm.
Die Magielose erbleicht. Ein Lächeln qualmt auf Rattingers Lippen. Genau diese Art von arroganten Wesen zertritt er am liebsten.
  „Du bist aber kein Zauberer, also sprich nicht über sie", versucht sie des Ungetümes Vernunft zu wecken. „Du lockst noch einen an. Hörst du mir überhaupt zu?" Sie zupft an seinem Hemd, aber er reagiert nicht. Also überholt sie ihn und versperrt ihm den Weg.
  „Man darf einfach nicht den Schwanz einziehen", prahlt das Ungetüm und geht einfach an ihr vorbei, als hätte er sie nicht gesehen. Als würde er sie nicht sehen können. Für ihn war sie unsichtbar.   „Wenn mir so'n Teufel begegnet, ich würd dem 'ne verpassen, damit der sich nie wieder mit einem anlegt." 
  Das war's. Donner. Wind zieht auf und fegt durch die Gasse. Es beginnt. Rattus Rattinger krempelt die Ärmel hoch, rückt sein grünes Barett zurecht und legt los. Er springt vor, packt die Magielose am Handgelenk und verrichtet sein Meisterwerk. Magie fließt schier aus seinem Mund. Jedes einzelne Wort wirbelt um sie herum und fesselt sie wie eine bleierne Kette. Blitze zucken am Himmel. Nichts kann ihn jetzt noch aufhalten. Vom Hut zieht er die Feder und rammt sie ihr in den Unterarm. Symbol um Symbol ritzt er künstlergleich auf seine zitternde und zerrende Leinwand. Erschrocken starrt ihn das Ungetüm an. Ein Schauer durchfährt seinen Leib. Nur noch eine Staubwolke ist vom Musikus zu sehen.
  Als das letzte Symbol geritzt und das letzte Wort gesprochen ist, beginnt sein Kunstwerk zu wirken. Der Fluch verbirgt sie vor aller Augen. Das Einzige, was zwischen ihm und seiner Beute steht, verschwindet mit einem Donnerschlag von der Bildfläche und wird wahrhaftig unsichtbar. „Ei, was ist denn los? Prahltest du nicht deiner Stärke so groß?", spottet Rattinger und stößt die Verfluchte von sich.
  Staub wirbelt neben ihnen auf. Der Magielose dreht sein Haupt, sein Blick sucht den ihren – findet ihn jedoch nicht. Jetzt ist er an der Reihe. Die gerechte Strafe der Götter haben sie allesamt verdient. Der Magielose fasst sich wieder und ballt die Fäuste.
Rattinger bereitet einen Zauber vor. Jeden Einzelnen seiner Hiebe würde diese Made um das Hundertfache selber spüren. Er muss nur noch zuschlagen. „Ei, wo ist denn deine ach so große Kraft? Prahltest du nicht, den nächsten Teufel zu erschlagen, sodass er läge in seinem Lebenssaft?" Rattinger tritt vor. Ihre Köpfe scheinen sich beinahe zu berühren. „Magielose Ratte!"
  „Renn!", ertönt die Stimme der Verfluchten aus dem Nichts.
  Die Beute hebt die Fäuste – und verharrt. Nein! Das Ungetüm hat es gehört, er kann es nur gehört haben. Diese miese Ratte springt weg, flüchtet aus seiner Falle. Schon biegt sie um die nächste Ecke. Seine Beute droht zu entkommen. Dem Rattenfänger gefällt das gar nicht. So eine Ungerechtigkeit kann Rattus Rattinger nicht hinnehmen. Die Jagd beginnt.
  Seine Füße gleiten förmlich über den Boden. Weiter und weiter scheucht er seine Beute. Blitze züngeln aus seinen Fingerspitzen. Links und rechts knallen sie in den Boden, Schreie erklingen bei jedem Lichtblitz. Das Ende der Gasse kommt in Sicht. Eine hohe Mauer, aus der es kein Entrinnen gibt, ragt vor ihnen auf. Das war des Gejagten Endes.
  Diese Ratte schlägt einen Hacken, zischt durch einen Spalt und taucht in der Menschenmenge unter. Rattinger bremst ab, zieht seinen Umhang glatt, richtet Hemd und Hut und eilt hinterher. Noch ist die Jagd nicht vorbei, sondern lediglich verschoben. Nie ist ihm auch nur eine Einzige entronnen. Sie täuscht sich, wenn sie denkt, sie könnte ihm entkommen.
  Auf der Hauptstraße schaut er sich um. Ein Karren rollt an ihm vorbei, Äpfel hüpfen auf der Ladefläche umher. Der Kutscher lässt die Peitsche knallen, Gelächter erschallt die Straße hinauf. Der Geruch von verbranntem Fleisch strömt aus einer der Türen, darüber schaukelt ein Schild mit der Aufschrift Zum frö'lichen Drachen. Ein Lindwurm mit Bierkrug in den Klauen ist darauf abgebildet. Rattinger tritt näher heran. Zwerge tanzen hinter dem gewellten Glas auf den Tischen, schlagen mit viel zu großen Hämmern aufeinander ein und tun etwas   Unaussprechliches, etwas, dass sie selber als Gesang bezeichnen. 
  Kopfschüttelnd wendet er sich ab. Vor ihm marschiert ein Dreispitzhut vorbei, Matrosen folgen ihm. Fässer rollen die Straße zum Hafen hinunter, über Steine und Planken finden sie ihren Weg in den hölzernen Bauch. Wind zerrt ungeduldig an des Schiffes Segel und ruft zum Aufbruch. Von der Hügelkuppe sieht Rattinger seine Beute in eine Seitengasse flüchten. Er folgt ihr. Taucht tiefer in den Strom aus Magielosen ein. Keinen Funken Magie spürt er unter ihnen, nicht einmal den Schwächsten. Diese Schwäche widerte ihn an. Er verzieht das Gesicht. Wie können es derart primitive Wesen wagen sie herausfordern?
  Ein Gewirr aus Abzweigungen und Wegen erstreckt sich vor ihm. Auf einem Fenstervorsprung sitzt ein schwarzer Rattentöter und schleckt sich die Pfote. Als sie seinen Blick bemerkt, reckt sie ihr Köpfchen und miaut ihn an. Ein fischiger Geruch haftet an dem Fell  des Tieres. Rattinger hält den Atem an und wendet sich ab. Auch die Katze verliert ihr Interesse und springt auf die Schräge eines nahen Daches. Gar kein schlechter Einfall.
  Er setzt zum Sprung an, stößt sich ab und begibt sich in die Luft. Der Boden unter ihm schwindet; Türen, Fenster und Regenrinnen lässt er unter sich. Erst beim Qualm der Schornsteine melden sich die Gesetze der Natur. Dort läuft er!
  Im Zickzack versucht er in die nächste Gasse zu flüchten – die perfekte Falle. Todesengelgleich segelt Rattinger auf ihn zu. Die Hände wie Klauen nach ihm ausgestreckt. Bald wird er ihn haben, bald ist er des Rattenfängers. Seine gerechte Lektion erwartet ihn.
  Immer kleiner und kleiner wird der Abstand. Ein stechender Schmerz prickelt in seiner Seite. Rattinger wird zu Boden geschmettert. Der Sturm verstummt. Die Wolkenfront bricht. Immer noch verfolgt sein Blick die Beute. Weiter und weiter fällt er zurück. Sie entkommt. Die Jagd wurde beendet, bevor sie überhaupt richtig beginnen konnte.
  Benommen vom Kribbeln und Knistern, das sich entlang seines Bartes erstreckt, erhebt er sich. Jetzt hat er schlechte Laune – verflucht schlechte Laune.
  Vom Pflaster nimmt er sein Barett, putzt es ab und setzt es wieder auf. Solche Blitze konnten nur von jenem Zauberer stammen, schwere Stiefel stapfen durch die leere Gasse. Dunkelrote Magie knistert auf seinem gesamten Leib und durchdringt ihn vom Spitzhut bis zur letzten Falte seines Umhangs. Sogar kleine Sterne glitzern an seinem lächerlich geformten Hut.
  „Mutig, Zauberer. Äußerst mutig."
  Sein Gegenüber lässt ihn nicht aus den Augen. Immerwährend ist die Spitze des Stabes auf ihn gerichtet.
  „Bist du dir im Klaren, wen du gerade herausgefordert hast? Menschlein", spottet Rattinger.
  Kleine Blitze erscheinen auf der Spitze des Stabes. Angriffslustig tanzen sie um das Holz, jederzeit bereit sich auf ihn zu stürzen. „Ihr! Ihr niederträchtiges Teufelspack seid schuld an alldem. War dir der Hafen nicht genug?", erwidert der Zauberer, während er sich Rattinger nähert.
  „Das? Versteht ihr den keinen Spaß? Ewiger Hunger ist die gerechte Strafe für einen Sünder, der die rechte Gabe verwehrt."
  Der Zauberer verzieht angewidert das Gesicht. „Spaß? Einen Unschuldigen zu ewigem Hunger zu verdammen, das versteht ihr als bloßen Spaß?"
  Rattinger zuckt mit den Schultern und setzt sein bestes Lächeln auf. „Und wenn es so wäre? Was will eine Made wie du schon dagegen tun?"
  Magie knistert im Stab. „Ganz einfach", sagt der Zauberer und macht einen Schritt auf ihn zu. „Ich setze deinem Schrecken ein Ende."
  Der Zauberer will zuschlagen. Rattinger kommt ihm zuvor. Macht eine Geste, als wolle er etwas aus der Luft pflücken. Scharfer Wind braust durch die Gasse, der Zauberer wird zu Boden geschmettert, Blätter wirbeln panisch herum. Fensterläden zittern vor Furcht, Scheiben klirren vor Angst. Rattinger schreitet auf ihn zu. Ratten strömen überall aus ihren Schlupflöchern. Ihr Quieken prallt an den Wänden ab und lässt die ganze Stadt erzittern. Er fischt eine vom Boden und beginnt sie sanft zu streicheln. Die Ratte wiegt sich in trügerischer Sicherheit, legt die Ohren zurück und streckt die Glieder aus. Kurz vor dem Zauberer bleibt er stehen. Der Sturm hat sich bereits erholt, nach und nach blockiert er die Sonne. Jetzt ist es wieder so weit.
Voller Verachtung sieht sein Herausforderer zu ihm hoch.
  „Menschen sind nichts weiter als haarlose Ratten" Rattinger bricht voller Vorfreude in Gelächter aus. „Hautlos kriegen wir euch auch noch." Ohne Vorwarnung reißt er der Ratte das Fell herunter. Schmerzerfülltes Quieken ertönt von dem Getier. Kein Blut fließt, keine sichtbaren Verletzungen erleidet sie, nur eines bleibt ihr – der Schmerz.
  „Deine teuflische Magie imponiert mir nicht. Mich magst du exsekrieren, aber uns hältst du damit nicht auf", trotzt der Zauberer seiner Darbietung.
  Rattinger mustert ihn, liest die Magie, die sich um sein Herz und seinen Verstand gelegt hat, wie eine Schriftrolle. „Aber, aber, wo andere säen, ernte ich nicht. Was macht dein Sprössling?"   Hämisch grinst Rattinger ihn an.
  Es knallt. Ein Blitz schießt aus dem Stab und zerreißt die Luft.
  Rattinger lacht. Eine mickrige Ratte, die zu stur ist, in seines Schicksals Auge zu sehen und trotzdem nicht entkommen kann. Mit einem hohen Sprung weicht er dem Zauber aus. Unter ihm kracht es. Rauch steigt von den verkohlten Pflastersteinen auf. Magie formt einen kleinen Tornado. Blitze knistern im Inneren. Der Zauberer meint es ernst.
  Rattinger ist noch in der Luft, schon spürt er den Sog. Kein Entkommen.
Er rudert mit den Armen, will sich teleportieren, aber es ist zu spät. Bevor er auch nur eine Silbe hervorbringt, reißt ihn der Wirbel gänzlich an sich und schneidet ihm das Wort ab. Blitze fahren in seine Haut. Kribbeln brennt in seinem Arm. Höher und immer höher wird Rattinger gewirbelt.
Endlich! Der Tornado speit ihn wieder aus. Quer über die Häuserdächer wird er geschleudert und prallt gegen eine Turmspitze. Donner brüllt. Sturmwolken verfinstern den Himmel. Sein Sturm tobt vor Wut.
  Rattinger sieht auf den Zauberer herab. Bis zum Fuße des Turms ist der Zauberer ihm gefolgt.
  Drohend hebt er die Faust. „Stell dich deinem Schicksal, Feigling."
  Rattinger betrachtet die Haut auf seinem Arm. Schwarze Brandflecken bildeten sich darauf. Der Geschmack von Asche füllt seinen Mund, als seine Zunge über die dunklen Stellen gleitet. Das würde diese Ratte ihm büßen.
  Funken erhellen den Himmel. Ein wahres Geflecht aus Blitzen erstreckt sich über den Wolken. Alle werden angezogen von Rattinger. Magie sammelt sich in seinen Händen. Pulverisieren wird er diese Made mit nur einem Schlag.
  „Verfluchter Teufel!", brüllt der Zauberer zu ihm herauf. „Auch du wirst dich dereinst dem Urteil eines anderen fügen. Eines Tages wirst auch du fallen, beim König der Götter."
  Rattinger lacht lediglich. „Auch der alte Narr wird unsere Macht noch fürchten lernen."
Kirchenglocken läuten. Der Sturm bricht und muss verstummen. Lichtstrahlen zerreißen die Wolkendecke und fangen sich in den farbigen Fenstern des Turmes. Geblendet vom Licht taumelt er zurück, stößt gegen eine Statue und bleibt daran hängen. Ein Augenblick der Unachtsamkeit, mehr hat es nicht gebraucht.
  Seine Füße suchen den Boden – finden ihn jedoch nicht. Seine Hülle kippt von der Kante des Turmes. Ein großes Bleiglasfenster zieht an ihm vorbei. Die Bildnisse darauf verwischen, dennoch erkennt er das Abbild des Königs der Götter. Wie ein gefallener Engel rast er dem Boden entgegen. Rattinger öffnet den Mund – kein Ton kommt heraus, keine rettende Magie fließt. Rattendreck. Panisch öffnet und schließt er seinen Mund. Alles vergebens. Das kann nicht sein! Etwas oder jemand versiegt seine Magie. 
  Er richtet seinen Blick zur Kirchturmspitze. Von oben herab begegnet ihm der steinerne Blick der Richterstatue und verfolgt ihm bis zum Unvermeidbaren. 
  Er schließt die Augen. Krachen. Knochen brechen, Blut spritzt, aber er lebt. Unter sich spürt er die glatten Pflastersteine. Blut befleckt ihre Oberfläche, sein Blut. Seine Hand fährt über eine herausstehende Rippe. Blut quillt aus der Wunde, als er sie wieder hineindrückt. Magie bricht aus seinem Mund hervor und rückt alles wieder gerade. Die Wunde schließt sich mit jedem geflüsterten Wort. Rattinger erhebt sich und stützt sich an der Kirchenmauer ab. Er blickt nach oben. Reste seines Umhanges hängen am verfluchten Richterhammer.
  Viel Magie hat er verbraucht, jetzt spürt er wieder dieses Verlangen. Hunger. Er reckt seine Nase. Magie liegt in der Luft. Geradewegs kommt es die Straße herauf. Zwei jüngere Magielose kommen ihm schicksalhaft entgegen, ihr Geruch hat etwas an sich. Etwas, das er zum Fressen gern hat.




Das Gift der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt