Längst waren seine Tränen getrocknet. Kein Wort hatte er seit dem gesprochen. Lothar betrat das Schutzhaus mit den anderen Zauberern, stieg die Treppe hoch und fand sich im Saal wieder. Dumpf ließ er sich in den Ohrensessel fallen und starrte aus dem Fenster. Der Abend war hereingebrochen. Der Markt leerte sich. Fackeln knisterten an den Wänden und spendeten tröstendes Licht. Tassen klapperten, der Hagere schloss den Schrank. Vor ihm stellte er eine Blumentasse auf den Tisch. Es war ihm egal. Er hatte alles Verloren. Jetzt war es aus. Der Teufel würde nicht aufhören, ihn zu jagen, und er konnte ihm nichts entgegensetzen. Neben ihm ließ der Hagere sich in den Sessel sacken. Er seufzte, als ob er etwas sagen wollte, jedoch keine Worte fand. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, nur dass es sich eigentlich nicht ausbreiten konnte, da es schon immer da war. Wie die Sterne am Himmel oder der Tod, der ihn erwartete. Eigentlich hätte er noch sein ganzes Leben vor sich gehabt. So viele Pläne hatte, nur für jetzt hatte er keinen. Eine Kanne wurde auf den Tisch gestellt. Dampf qualmte daraus hervor und beschlug die Scheibe. Der kleinere Zauberer schenkte sich etwas Wasser in die Tasse. „Trink, es wird dich aufmuntern."
Er war nicht durstig. Vermutlich hatte der Tee noch nicht einmal richtig gezogen. Doch er wollte den Sand und den Geschmack seiner Tränen loswerden. Den schnörkeligen Henkel dieser Tasse hatte er nicht verdient. Auch das er jetzt hier war, hatte er nicht verdient. Er war kein Zauberer. Hätten sie nicht darauf bestanden, wäre er jetzt wieder zu Hause, in seinem Bett und würde auf seinen Tod warten. Kein Auge würde er in seinem Bett zu bekommen. Von nun an begleitete ihn das sichere Gewissen, dass er eines Tages einfach aufwachen würde, und dieser Teufel vor ihm stehen würde. Das Letzte, was er sehen würde, wäre diese Fratze und das wär's dann. Er konnte nichts tun. Der Tee schmeckte bitter, wie sein Leben. Wenigstens wurde er somit diesen Geschmack los. Er stellte die Tasse zurück und sah die beiden an. Sie sahen ebenfalls aus dem Fenster raus und schwiegen. Er müsste nur zaubern können. Dann könnte er sich wenigstens verteidigen, es musste ja nicht viel sein. Hoffnung regte sich in ihm. „Könnt ihr mir nicht trotzdem das Zaubern beibringen? Es muss ja keiner erfahren", setzte Lothar an und sah sie flehend an. „Ich will mich nur verteidigen können."
Der Hagere atmete laut aus. „Wenn das so einfach ginge, würden wir es ja tun. Aber ohne Zauberstab bringt das nichts", erklärte Humboldt und starrte wie gebannt zum Schein einer Fackel. „Leider", bestätigte Hartwig und stand auf. „Aber du kannst so lange bleiben, wie du willst. Wir hätten hier auch Arbeit für dich. Die Küchenmagd braucht immer Hilfe und kehren müsste man hier auch mal wieder jemand."
Draußen packten die Händler ihre Sachen zusammen. Trugen ihre übrigen Waren nach Hause und räumten den Dreck am Platz weg. Eine Wächterpatrouille zog unter ihm vorbei. Der vorderste war ein kleiner Zwerg. Im Licht der Fackel blinkte ein silberner Anhänger auf seinem Kettenhemd. Gemeinsam zog er mit seinen Mannen in die Kaserne ein. Aylia hatte ihre Ziele erreicht. Sie war ein Wächter, er eine Küchenhilfe, die sich nicht mehr traute einen Fuß vor die Tür zu setzen. Wäre er bloß nie in das Haus des Teufels gegangen. Nichts als Ärger hatte er sich seitdem eingebrockt. Er wollte ein Held sein, ein Zauberer und jetzt hatte er alles verloren. Der Ohrensessel schabte über die Dielen. „Überleg es dir. Wir warten draußen, falls du uns brauchst", sagte Humboldt und zog sich mit Hartwig zurück. Mit einem Klicken schloss sich die Tür zum Saal. Lothar stand auf. Die Luft hier war ihm zu stickig. Er beugte sich nach vorne, um das Fenster zu öffnen. Sand rieselte zu Boden. Immer noch war er ganz dreckig vom Kampf und so fühlte er sich auch. Der Luftzug tat ihm gut. Der Wind strich ihm durch die Haare und kühlte seinen Kopf. Für einige Momente schloss er die Augen. Holz schlug auf dem Boden auf. Etwas war ihm aus der Tasche gefallen. Die Flöte. Mit ihr hatte alles angefangen. Vorsichtig greifen seine Finger danach. Die Löcher und das Mundstück waren nach alle dem immer noch intakt. Prüfend sah er sie an. Nicht ein Staubkorn hatte sich darauf abgelegt. Er setzte das Mundstück an seine Lippen. Wenigstens die Musik blieb ihm in solchen Zeiten. Früher hatte er öfter gespielt. Gerdr meinte vor der verlorenen Zeit müsse er oft geübt haben. Bestimmt hatte sie recht, oder auch nicht. So genau wusste er das nicht. Nicht umsonst nannte er es die verlorene Zeit. Noch heute fragte er sich, was er wohltun würde, wenn er sich jemals an die Zeit vor seinem dreizehnten Geburtstag erinnern würde. Gerdr meinte es sei normal, dass man sich nicht an seine Kindheit erinnern würde. Allerdings meinte sie auch, dass Frösche gut in Eintopf passten und Kürbisse die Seelen von Toten einfangen könnten. Lothar schüttelte den Kopf. Die Händler und Wächter waren verschwunden. Der gesamte Markt war menschenleer, einzig und alleine Ratten knabberten noch an den Überresten herum. Ein Dutzend von ihnen hatte sich um einen verwelkten Kohlkopf versammelt und kauten von allen Ecken und Enden daran herum. Zwei der Biester hatten einen Streit um ein verdrecktes Stück Käse losgebrochen und zogen es zwischen sich hin und her. All ihre Mühen waren jedoch vergebens, da eine äußerst Dicke den Käse für sich entdeckte und beide kurzerhand in den Schwanz biss. Quickend drehten sie sich zu ihr um, nur um zuzusehen, wie sie das Stück verschlang. Kein höfliches Publikum. Vermutlich konnten sie ihn nicht einmal hören, doch das war ihm egal. Er setzte die Flöte an seine Lippen und spielte. Letztes Mal ertönte eine gruselige Melodie. Dieses Mal erklang jeder Ton so sanft wie aus einer Harfe. Er spürte die Melodie, sie fühlte sich an, als käme sie von einem fernen Ort voller Wunder und Mysterien. Sie steckte voller Kraft. Der Markt sah leer aus, dabei könnte er voller Leben sein. Lothar schloss die Augen. Er konzentrierte sich und stellte sich vor, wie all die Ratten dort, draußen wie Menschen zu Tanzen beginnen würden. Kein Quiecken, kein Beißen, sondern Klatschen und Sprechen. Lothar öffnete die Augen. Er war müde und erschöpft. Seine Augen spielten ihm einen Streich, vielleicht aber träumte er auch schon längst. Wie sonst konnte er das dort draußen sonst erklären? Die Ratten hatten sich auf ihre Hinterpfoten erhoben und gingen aufrecht. An den Blättern hoben sie den Kohlkopf hoch und trugen ihn in die Mitte des Platzes. Rund herum tanzten sie. Gaben sich die Krallen und sprangen im Kreis. „Ei, Herr, Herr Rattenfänger fandest du deinen Bezwänger. Ei, Herr, Herr Rattenfänger der König war doch ein Strenger", sangen sie mit ihren hohen Stimmen. Auch der dicke Rüpel hatte sich auf seine Hinterpfoten erhoben und sprang Arm in Arm mit einer zweiten herum. Mondlicht begleitete das Fest. Lothar dreht sich. Tische, Stühle und Schränke, alles, was Beine hatte, sollte zum Takt der Musik tanzen. Holz schabte über die Dielen, die Tassen klirrte im Schrank bei jeder Bewegung. Sie taten es, und wie sie es taten. Die Feuer der Fackeln brannten in schillernden Farben. Lothar begann sich zu drehen. Was ein Fest. Die Musik befreite seinen Kopf von den Sorgen und seine Schultern von der Last. Er fühlte sich Schwere los. Seine Stiefel berührten den Boden nicht mehr. Die Ratten drehten sich auch. Nur eins fehlte noch. Der welke Kohl verwandelte sich in duftenden Käse. Sein Publikum jubelte. „Ein Hoch auf den neuen Rattenfänger", sangen sie mit vollem Mund, ihr Knabbern und Schmatzen verschmolz mit der Melodie. Die Tür knallt auf. Die Musik verstummt. Die Möbel kommen abrupt zum Stehen. Mit einem Knall landet er auf der Tischplatte. Die Ratten flüchten schreiend vom Markt. Komischer Traum. Alles wirkte so echt und doch fühlte er sich wie betäubt. Bestimmt würde er ohne hin gleich aufwachen. Aus dem Türrahmen starren ihm zwei weit aufgerissene Augenpaare an. Ihre Münder stehen Sperrangel weit offen. Ihre Spitzhüte waren verrutscht. Haarsträhnen lugten darunter hervor. Hartwigs Hut fällt ihm nahezu geräuschlos vom Kopf. Er achtet nicht mal drauf. Humboldt reibt sich die Augen. „Hab ich gerade gesehen, was ich gerade gesehen hab?"
„Glaub's lieber, ich hab's auch gesehen", sagte Hartwig und schritt durch den Saal. Alles war durcheinander. Die Stühle verrutscht, die Tischbeine gekrümmt und verbogen alles war mitten im Tanz wie eingefroren. Humboldt hob Lothar von der Tischplatte herunter. „Wie hast du das gemacht?", fragte Hartwig nach und zeigte auf den gebogenen Tisch. Lothar kniff sich kurz ins Bein. Es tat weh. Es konnte kein Traum gewesen sein. Echt konnte es jedoch auch nicht gewesen sein. Er spielte nur die Melodie und dann passierte alles. Lothar schüttelte nur die Flöte in seiner Hand. „Potzblitz, sie ist wirklich verflucht", stieß Humboldt aus und trat ein paar Schritte zurück. „Das kann nicht sein", protestierte Hartwig und schaute sich die Flöte genauer an, ohne sie zu berühren – aus sicherer Entfernung. „Wieso ist dann zuvor nichts geschehen, als du sie gespielt hast?"
Er hatte recht, beim letzten Mal reagierte die Flöte nicht, als er sie spielte. Irgendetwas musste er anders gemacht haben. Nur was? Er drehte sie in seinen Händen. Alles sieht genau so aus wie damals. Kein Kratzer, keine Schramme und nicht ein verfluchter Hinweis, was es sein könnte. Lothar kratzt sich am Hinterkopf. Er war ratlos, müde und erschöpft. Im Gedanken träumte er schon längst. Zugegeben letztes Mal war er vielleicht etwas Angespannter und Gereizter. Vielleicht reagierte die Flöte auf seine Gefühle. Oder sie reagierte zufällig oder nur wenn, es ihr passte. Es könnte alles sein.
Hartwig schüttelte sein Haupt. „Egal, sie ist verflucht. Wir müssen sie verbrennen", sagte er und ging zum Kamin, richtete seinen Zauberstab darauf und schleuderte einen Feuerball auf die Holzscheite. Feuer knackte. Holz verbrannte zu Asche. Nichts würde von ihr übrigbleiben. Lothar verkrampfte. Schützend drehte er sich weg. Es war seine Flöte, sie durften sie nicht einfach so verbrennen. Verflucht hin oder her. Zuvor hatte sie ihnen auch nichts getan. Humboldt schwieg und rieb sich am Kinn. „Es ist nur zu deinem und unsere allem Wohl", beteuerte Hartwig und griff nach der Flöte. Er zog daran, sie wanderte ein Stück zu ihm. So leicht würde Lothar nicht aufgegeben. Mit all seiner Kraft hielt er dagegen. Allmählich kehrte sie zu ihm zurück. Bis sie seine Brust berührte. Immer noch hing Hartwig's Hand an ihr. „Ich sagte doch, es ist nur zu deinem Besten. Lass los!", sagte er und drückte sie einen Finger breit weg von seiner Brust. „Ich kaufe dir auch eine Neue." Er machte Fortschritte. Lothar's Finger wurden schwitzig. „Sie gehört mir. Das ist mein einziges Erinnerungsstück an früher", wandt Lothar ein und lehnte sich zurück.
„Flüche bringen Unglück und verderben über die Menschen. Du wirst früher oder später drauf gehen, wenn wir jetzt nichts unternehmen."
„Das werde ich doch sowieso." Er wollte noch etwas hinzufügen. Etwas Schlaues sagen, dass ihn überzeugen würde von seinem Vorhaben abzulassen und ihn in Frieden. Dazu kam es nicht mehr. Seine Finger rutschten ab. Hartwig stolperte nach hinten und er stieß gegen den Tisch. Mit den Armen rudernd versuchte er das Gleichgewicht zu finden. Fand es jedoch nicht. Weiter und weiter stolperte er nach hinten – direkt zum Kamin. Sein Rücken stieß gegen den Kaminsims. Sicher spürte er die Wärme. Sicher hörte er das Knacken des Feuers unter sich. Bestimmt wusste er haargenau, was sich unter ihm befand. Und doch setzte er sich. Mitten auf die feurigen Flammen. Die Holzscheite ächzten unter der Last. Jaulend sprang er hoch. Sein Hosenboden brannte. Rauch stieg davon empor. Immer wieder schlug er auf die Flammen ein. Hüpfte quer durch den Saal. Humboldt versuchte, sein Lachen zu unterdrücken. Ein Zauberer der sich am eigenen Zauber verbrannte. Mit dem Erlöschen der letzten Flamme ließ auch seine Herumhopserei nach. „Nichts als Ärger bringen Flüche", wiederholte er und hielt sich sein Gesäß. „Welchen Beweis brauchst du Sturkopf noch?"
Lothar rappelte sich auf. Er musste vor ihm beim Kamin sein. War er erstmal dort, könnte er ihn aufholten und sich die Flöte zurückholen. Er hatte einen deutlichen Vorsprung. Jetzt oder nie. Lothar stürmt los. Hartwig auch. Das Feuer hatte ihn bestärkt. Zielgerichtet rannte er darauf zu. Lothar streckte die Hand nach ihr aus. Er hatte heute schon genug verloren. Seine Zukunft lag in Trümmern, da wollte er nicht auch noch seine Vergangenheit verlieren. Zu spät. Hartwig hatte den Kamin schon erreicht. Mit einer Hand stützte er sich am Sims ab. „Es ist besser so", sagte er und holte aus, um sie ins Feuer zu werfen. Lothar sprang nach vorne. Unmittelbar davor knallte er auf dem Boden auf. Er war machtlos. Zuerst die Prüfung und jetzt die Flöte. Alles lief heute den Bach hinunter. „Nicht so voreilig." Lothar blickte hoch. Humboldt hatte Hartwig's Hand gepackt und sie vor dem Feuer bewahrt. Sie war weder verbrannt, verkohlt noch versengt. Zumindest fürs Erste. „Woher wissen wir, dass es ein Fluch ist? Siehst du es nicht? Es ist kein Fluch", sagte er und zog seine Hand vom Feuer weg. „Was redest du da. Du hast doch gesehen was passiert ist." Die Flöte wanderte wieder näher zum Feuer. Die Flammen lechzten schon nach ihre. In feuriger Erwartung nach dem nächsten Holzscheit, dass sie verschlingen konnten. Das konnte er nicht zulassen. Er war abgelenkt, das war seine Chance. Seine Hände griffen nach ihr. Hartwig war stur. Kein bisschen rührte sie sich. „Kein Fluch", wiederholte er. „Ein Zauberstab."
Die Flöte glitt aus seiner Hand. Er hatte sie zurück. Endlich. Zusammen nahmen sie erstmal Abstand. So schnell würde er sie nicht wieder verlieren.
„Das kann nicht dein Ernst sein!", protestierte Hartwig und fletschte die Zähne. „So etwas muss dem Rat gemeldet werden. Wenn nicht dem ganzem Zirkel."
„Es ist die einzige Möglichkeit, seinem Wunsch zu entsprechen. Wir schulden es ihm", beteuerte Humboldt ihm und sah zu, wie er zur Tür schritt.
„Das wird kein gutes Ende nehmen!", brüllte er und knallte die Tür hinter sich zu. Humboldt folgt ihm, bei der Tür dreht er sich kurz um. „Überlass das mir. Er kriegt sich schon wieder ein", sagte er und öffnete die Tür. „Sieht so aus, als ob du doch noch ein Zauberer werden könntest."
Mit diesen Worten verschwand er und ließ ihn alleine im Chaos des Saals zurück. Erschöpft sank Lothar in den Ohrensessel. Er für heute hatte sich etwas Ruhe verdient. Etwas kratze am Fenster. Die fette Ratte reckte ihre Nase in die Luft und witterte. Auge in Auge sahen sie sich an. Neben ihr lag ein Stück Käse. Ob sie wohl wirklich sprechen konnte. Oder hatte er sich das nur eingebildet. Lothar öffnete das Fenster. Mit dem Kopf schob sie den Käse hinein. Dumpf plumpste er auf den Tisch vor ihm. „Für dich neuer Herr, Rattenfänger", ertönte es mit einer hohen Stimme. Die Ratte putze ihre Schnauze. Hatte sie gerade wirklich gesprochen? Ihr Mund jedenfalls schien sich nicht bewegt zu haben. Lothar streckte seinen Kopf aus dem Fenster. Sie waren überall. Rund um das Fenster hockten sie, auf allen Balken, auf dem Dach und auf der Regenrinne. Ratten über Ratten, so weit das Auge reichte.
DU LIEST GERADE
Das Gift der Götter
FantasyDer Junge aus dem Armenviertel Lothar wünscht sich nichts mehr als ein waschechter Zauberer zu werden, doch sind seine Chancen bei der Akademie gleich Null. Darum rät ihm Aylia seinen Traum aufzugeben und mit ihr der Wache beizutreten. Gemeinsam kön...