Diebesglück

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Die Türglocke bimmelt. Unmittelbar schreckt Krummfinger Arvolos zusammen. „Wann haust du das elende Ding endlich in den Abort?"
  Der alte Mittländer wuchtet sich durch die Hinterzimmer Tür und füllt den Platz hinter der Theke aus. Sein Fettwanst stößt gegen die Regale an der Seite. Eine Gewürzwolke erhebt sich davon und verpestet den ganzen Laden. Hustend und würgend versucht Avo den Gestank aus Pfeffer und Bohnenkraut zu entgehen. „Bares Geld wegschmeißen? Lieber leg ich mich mit'm Deufel an", sagt Sulav, drückt sich in Position und setzt seinen Nasenquetscher auf. „Lass mal rüberwachsen das Ding."
  Avo wühlt in seinem Beutel und zieht eine Halskette heraus. Sulavs reist ihm die Kette aus den Händen. Ganz nah halten seine Wurstfinger die schönen Steinchen an sein Auge. „Ist noch ganz frisch", sagt Avo stolz. „Für'n paar Mücken gehört se dir."
  „Wertloser Dreck! Was soll ich dann damit? Das Ding werd ich frühestens bei den Ahnentagen los", sagt der dreckige Mittländer und schmeißt die Kette nach ihm. Das Metall peitscht ihm ins Gesicht. Kettenglieder klappern. Die Steine fühlen sich wie Nägel an. „Aua! Dreckiger Mittelländer", flucht Avo. „Nicht mal echt ist sie", lügt der mittelländische Bastard. „Zeig endlich den Rest her!"
  „Gibt nicht mehr. Blut fließt auf den Straßen. Die Wölfe wollen ihr Revier erweitern, hab'n sich die falschen ausgesucht. Hab den ganzen Tag gebraucht, um das Ding ner Adeligen abzuluchsen", sagt Avo und steckt die Kette wieder ein. „Ist n' großes Ding. Für'n Beutel voll Münzen kann sie dir gehören."
  Sulav nimmt seinen Nasenquetscher ab und reibt ihn an seinem fettgefleckten Hemd. „Heb deinen Hintern aus meinen Laden und komm nicht wieder, bis du etwas Ordentliches hast", sagt er und zeigt auf die Tür. Avo beugt sich nach vorne und formt die Hände zu einer Schale. „Wie wäre es mit nur einer oder zwei Münzen für die Kette und ich besorg morgen..."
  „Raus!", brüllte der fette Mittelländer und zieht ein Wurfmesser hervor. „Muss ich dir Beine machen?!"
  „Aber...", setzt Avo an.
  Der Fettwanst holt aus. Hals über Kopf flüchtet er aus dem Laden. Holz knackt. Hinter ihm bohrt sich das Wurfmesser in die Tür. Auf den Straßen ist es ruhig. Die Sonne flüchtet vor dem Abend. In der Ferne hört er schon das Heulen der Wölfe. Bald würden die Straßen wieder diesen Halsabschneidern gehören. Er musste sich beeilen.
  Sein Magen knurrt. Nicht mal eine lächerliche Münze hatte dieser Fettwanst ihm gegeben. Selber schwimmt er bestimmt in Essen, während er hier hungerte. Der Markt war nicht weit. Bestimmt konnte er dort noch etwas ergattern, bevor ihn die Wolfsmänner erwischten.
  Ein Ziehen geht von seinem Magen aus. Bauchschmerzen quälen ihn bei jedem Schritt. Beim Gedanken an frischem Brot läuft ihm das Wasser im Mund zusammen. Die reichen Säcke konnten das doch kaum alles selber essen.
  Avo betritt den Markt. Es duftet nach frischem Brot, Käse, Fisch und Fleisch. Alles war da, in Übermengen. Vor einem Stand bleibt er stehen. Frisches Brot lag in Körben und wartet nur darauf endlich von ihm befreit zu werden. Der Blick des Händlers entgeht ihm nicht. Seine Augen sind zu schlitzen verzogen. „Kannst du überhaupt zahlen, du Habenichts?" Avo wühlt durch seine Taschen. Vielleicht verbarg sich ja doch noch die ein, oder andere Münze darin. Nichts, leider nichts. Kurzum dreht er dem Stand den Rücken zu und geht zu einem anderen. Alle Händler begaffen ihn, als sei er ein dreckiger Straßenköter. Wieder knurrt sein Magen. Wieder fühlt er dieses Ziehen. Im Vorbeigehen berühren seine Finger ein kleines Äpfelchen. „Dieb!"
  Avo lässt die Äpfel zurückfallen. Er hatte doch gar nichts getan. Noch nicht einmal hatte er sie in seiner Tasche.
  Zwei Hände packen ihn von hinten. Drücken seine Arme an seinen Leib und hindern ihn am Wegrennen. Der Händler holt mit der Faust aus. Er trifft – mitten ins Gesicht. Blut spritzt. Warmer Saft läuft ihm über die Wange. Avo will weg, zerrt an seinen Fesseln. Der Mann, der ihn gepackt hat, gibt nicht nach. „Dreckiger Wurm!", beschimpft ihn der Händler und schlägt in seine Magengrube. Sein Leib krümmt sich und geht zu Boden. Der Händler lässt nicht locker. Erst Schläge, jetzt Tritte. Sein leerer Magen wird mit Fußtritten angefüttert. „Reicht jetzt, der ist satt fürs erste", redet der Mann auf den Händler ein.
  „Solche Köter sind erst satt, wenn man ihnen den Kopf abhackt", sagt der Händler und bespuckt ihn. Avo bleibt regungslos liegen. Erst als sich die Schritte von ihm entfernen, kriecht er davon, rappelt sich auf und wischt das Blut aus seinem Gesicht. Sein Magen hatte aufgehört zu knurrten, dafür schmerzte er jetzt umso mehr. Heute Nacht müsste er wieder Hungern. Elendes Hundeleben. Wenn der dreckige Mittelländer ihn nicht beschissen hätte, wäre das alles nicht passiert.
  Gekrümmt schleppt er sich die Straße hinunter. Die Sonne verlässt ihn und hinterlässt ihn der Nacht als Beute. Metall schleift über das Pflaster. Immer wieder donnert etwas auf den Boden, etwas Großes. Es kommt von oberhalb der Straße. Direkt auf ihn zu. Avo flüchtet in den heimischen Schatten einer Nebengasse – gerade noch rechtzeitig. Ein mannsgroßer Kessel mit Tentakeln an jeder Seite rast an ihm vorbei. Irgendwas hängt da in den Tentakeln. Ja, zwei Menschen. Ein Zauberer und ein Junge hat das Biest gepackt. „Arme Hunde, hoffentlich geht's schnell", sagt Avo und zollt dem König der Götter seinen Tribut. Mit zwei Fingern tippt er sich auf die Stirn und formt eine umgedrehte Acht. Ein Feuerstrahl erfüllt die Luft. Das Monster zuckt wild mit den Tentakeln. Der Junge fällt zu Boden, eine Schriftrolle landet vor ihm auf der Straße. Avo nähert sich im Schutz der Schatten. Die Schriftrolle glänzt vom Fett. Kann das wirklich sein?
  Jeder in dieser verdammten Stadt wollte so ein Ding in die Hände bekommen. Vor ihm liegt ein neues Leben. Eines, indem kein Mittelländer ihn betrügt, kein Händler ihn prügelt und kein Hunger ihn plagt. Das alles liegt zum Greifen nah und doch verschwindet es in der Tasche des Jungen.
  Avo tritt aus den Schatten und hängt sich an seine Fersen. Dort war sie. Dort in der rechten Tasche des Jungen lag sein Glück. Sogar eine Ecke stand noch hervor. Das war alles, was er brauchte. Näher und näher traute er sich heran. Bis nur noch eine Armlänge zwischen ihnen war. Der Junge drehte sich nicht um, sah nicht nach hinten, schien nichts zu merken. Das war seine Gelegenheit. Avo streckt seine Hand nach dem Fitzel aus. Der Junge bleibt stehen. Er schluckt, Schweiß brennt ihm auf der Stirn. Vielleicht hat er etwas bemerkt. Avo zieht seine Hand zurück. Eine Frau kommt auf sie zu. Vor ihnen bleibt sie stehen. Sie mustert ihn, ahnte etwas, wusste etwas. Er zieht an ihnen vorbei. Lässt sie hinter sich und taucht in den Schatten einer Seitengasse ein. Sicher, fürs erste.
  Mit einer Hand wischt er sich den kalten Schweiß vom Haupt und lugt hinter der Ecke vor. Beide standen noch immer am selben Fleck. Sie unterhielten sich. Er hat es vermasselt. Aber noch hat er ihn nicht verloren.
  Nach einer Weile trennen sich die beiden. Der Junge biegt in eine Gasse ab. Avo folgt ihm. Die Holzdächer weichen einfachen Strohdächern. Hier klaute er nie. Gab fast nie was zu holen und die Leute waren nicht besser dran als er selbst.
  Bei einem Haus dicht vor der Stadtmauer bleibt er stehen und öffnet eine Tür und tritt ein. Der Knabe hatte nicht mehr als er selbst. Aber er wusste nicht wie man diese Schriftrolle gebrauchte. Bestimmt würde er sie einfach bei sich ins Regal stellen und sie verstauben lassen, oder noch schlimmer, den Zauberern bringen. In seinen Händen war sie besser aufgehoben.
  Avo nähert sich dem Haus. Die Tür knallt vor seiner Nase zu. Das macht nichts. Türen halten ihn nicht auf, taten sie noch nie. Die Schriftrolle gehörte schon so gut wie ihm. Auch wenn der Junge das noch nicht wusste.

Das Gift der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt