Wahre Wächter

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Licht blendet Aylia. Zugekniffenen Auges linst sie zum Fenster. Dumpf fällt das Buch vom Bett. Lange hatte sie gestern noch geschrieben. Er konnte aber manchmal auch ein echter Quältgeist sein. Immer musste er sich aufspielen. Wegen den paar lappigen Gaunern. Die würde sie auch noch drankriegen. Morgen. Spätestens Übermorgen. Wenn sie halt ein Wächter geworden ist – und das Training hinter sich hat. Das Training. Aylia reist die Augen auf. Das Training!
  Hals über Kopf reißt sie die Decke weg. Springt förmlich aus ihrem Nachtlager. Es ist ihr erster Tag als Wächter und sie verpennt ihn. Am frühen Morgen hätte eigentlich das Training begonnen. Dreckige Halsabschneider! Wären die gestern nicht gewesen, wäre das nicht passiert. Die Sonne hat den Morgen schon etwas länger hinter sich gelassen. Der Ausbilder würde sie umbringen.
  Mit dem Kopf voran stürzt sie aus dem Bett, den Holzbohlen entgegen. Sie streckt ihre Arme aus. Zu langsam. Ihre Stirn schlägt mit einem Pochen auf den Boden auf. Es schmerzt, aber sie hat keine Zeit. Sie sprintet die Treppe hinunter, biegt um die Ecke und stößt die Haustür auf. Sie würde zur Kaserne laufen, dort gegen die Tür hämmern und hoffen, dass der diensthabende Wächter Gnade mit ihr hat. Und wenn er sie fragte, ob sie auch wirklich ein Wächter sei, würde sie. Ja, sie würde. Nun also versuchen die Sache zu erklären. Erklären, dass irgendein Hurensohn sie überfallen hat. Nein, ein Wächter kann doch nicht überfallen werden. Die Zinnen der Kaserne kamen schon in Sicht. Sie wurde, bestohlen, beraubt oder noch besser, der Wind hat es ihr aus den Händen gerissen.
  Vor der Tür blieb sie stehen. Die Bilder der letzten Nacht erscheinen vor ihr. Die Fratzen der Räuber starren sie an. Immer noch hatte sie dieses höhnende Lachen in den Ohren. Widerlinge!
  Sie stößt die Tür auf. Die Tür kracht gegen die Wand. Der Sesselschaukler wedelt mit den Armen, versucht die Balance wiederzufinden. Währen seine Beine auf dem Boden und nicht am Schreibtisch, hätte er die Lage noch retten können. Stattdessen rutscht das Stuhlbein weg. Blätter, Formulare und Amtsbescheinigungen steigen wie eine Wolke auf und segeln durch den Raum. Ein dumpfes Pochen ertönt aus dem Inneren der Zettelwolke. Ein frischer Luftzug fährt durch den nach Kerzenwachs und Poliermittel müffelnden Raum. Erneut beginnen die Blätter zu rascheln und zu regen. Bis sie überall, in jeder Ecke und jedem Winkel verteilt sind. Langsam kommt der Kopf des Sesselschauklers unter dem Schreibtisch hervor. Mit der einen Hand zieht er sich am Tisch hoch, die andere hält er sich an den Hinterkopf. Seine Augen sind zu schlitzen zusammengezogen und nageln sie auf der Stelle fest. „Was ist?!", fragt er mit schmerzverzerrtem Gesicht. Aylia nimmt Haltung an. Zieht beide Beine zusammen, bis es klackt, presst ihre Arme ausgetreckt an ihren Leib und reckt das Kinn. „Ich bin Auszubildende und soll hier erscheinen."
  Der Mann stellt seinen Stuhl wieder auf, reibt sich den Kopf und verharrt unmittelbar in seiner gekrümmten Pose, bevor er sich setzt. Von oben bis unten mustert er sie. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, greift er nach einem der letzten noch verbleibenden Pergamente auf seinem Schreibtisch. Seine Hand schiebt den Federhalter runter davon. Namen reihten sich darauf, neben jedem der Namen befand sich ein Häkchen. Nur eine Handvoll Lücken blieben noch offen. „Und der Wachbefehl?" Alyia's Haltung lockert sich. Mit der einen Hand kratzt sie sich am Hinterkopf. „Also, dass ist so...", setzt sie an und nähert sich dem Schreibtisch. „Verloren?"
  „Ja, nein. Nicht ganz. Da war dieser blöde Hundes... Wind und hat ihn mir aus der Hand gerissen", versucht sie zu erklären, während sie sich zu ihm herüberbeugt. Viele Namen enthielt die Liste bei näherer Betrachtung nicht, dafür auffallend viele Häkchen. „Aylia Donnerpfeil nehme ich an", fragte der Mann und setzte ein Häkchen hinter ihren Namen.
  „Bist du Hellseher?"
  „Hauptmann Ragusa kann dir zwei Dinge bestätigen, dass weibliche Wächter nichts Besonderes sind, weilbliche unpünktliche Wächter jedoch schon", entgegnete er, faltete seine Hände und starrte zu ihr hoch.
  „Ist das nicht nur ein Ding?"
  Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus. „Das unverschämt unpünktliche Rekruten, persönlich von ihr auf die Streckbank gekettet werden", sagte er und zeigte auf die Tür hinter sich. „Der Exerzierplatz ist hinten im Hof, sie haben schon begonnen"
  Aylia schluckte bei den Worten. Der Mann lehnte sich zurück in seinem Stuhl und ignorierte das Chaos um ihn herum. Nicht mal einen Finger rührte er, um die Blätter einzulesen. Aylia konnte das egal sein, sie hatte wichtigere Sorgen. Als sie durch die Tür schritt vernahm sie stetige schlagen von Holz auf Holz. Es klang, wie bei den Übungen, die sie früher als Kind mit Lothar gemacht hatte, bevor er so magieversessen wurde. Hätte sich diese Phase schneller gelegt, wäre er jetzt hier, bei ihr. Ein Seufzer entfloh ihren Lippen. Sie schüttelt den Kopf. Nicht, dass sie ihn brauchen würde. Nein. Er bedeutete ihr nichts. Es wäre nur toll gewesen einen Wächterfreund zu haben. Einen Wächterfreund, dem sie alles anvertrauen konnte, jemand der mit ihr gegen dieses menschliche Ungeziefer kämpft. Sie schritt den Korridor entlang, tiefer ins Innere. Der Übungslärm wurde lauter. Schon von hier konnte sie das Brüllen des Ausbilders hören. Der Korridor öffnete sich zu ihrer linken. Der Weg führte noch tiefer hinein in das Herz der Kaserne, aber hier war vorerst Schluss für sie. Die Schwertkampfeinheit hatte gerade geendet. Müde und erschöpft ließen alle ihre Holzschwerter sinken. Schweißperlen glänzten ihnen auf der Stirn, ein Geruch wie ein Beutel voller alter Socken hatte den Platz für sich beansprucht. Die Spitzen der Holzschwerter zeichneten Linien in den Sand, als die Rekruten zum Rand schlenderten. Aylia mischte sich unter sie. Sand knirschte unter ihren Sohlen, als sie über den Platz zu ihren Kameraden ging. Es fühlte sich nicht gut an. Allen Blicken ausgeliefert schlenderte sie quer über den Platz. Zu spät, sie war zu spät und alle wussten es. Sie war Freiwild für den Teil in ihr, der sie einen Faulpelz nannte, Freiwild für das Gespött der anderen und Freiwild für den Ausbilder. Wobei letzterer ihr einen Arm auf die Schulter legte, sie herumdrehte und sie anbellte. „Rekrut! Wie ist dein Name?!"
  „Donnerpfeil. Sir, Aylia Donnerpfeil ist mein Name", sagte sie, zog die Beine zusammen und nahm Haltung an. „Zu spät! Das Training ist schon fast vorüber. Beim nächsten Mal bist du pünktlich, sonst polierst du die Schwerter der gesamten Garnison. Verstanden?!", brüllte der hagere Elf so laut, dass seine Spitzohren leicht zu wackelten schienen. „Im Krieg sind wegen solcher Undiszipliniertheiten tausende Kameraden gestorben, Freunde, Verwandte und Geliebte", der Elf machte noch einen Schritt auf sie zu. Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben. Aylia wich zurück. „Beim Massaker von Zweiturmfeld war's das gleiche, ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen." Er ballte seine Hände zu Fäusten. „Verfluchte Deserteure", murmelte er. Adern traten auf seiner Stirn und seinen Händen hervor. Er holte zum Schlag aus. „Wow, wow, immer langsam", schob sich eine Rauchwolke zwischen sie und dem Ausbilder. Aylia inhalierte den Geruch von Tabak, Lavendel und Honig? Hustend hielt sie sich die Hand vor die Nase. Erst jetzt sah sie den Zwerg mit der großen Pfeife im Mund und dem lila Stoffhut. „Lass die alten Tage hinter dir. Das Mädchen hat doch damit nichts zu tun", sagte er und sog an seiner Pfeife. Eine grünliche Wolke entstieg seinem Mund und wehte Aylia ins Gesicht. Der Elf versteifte sich, sein Blick ließ von ihr ab und wurde hart wie Stein. „Oh, Verzeihung dass wir uns nicht alle mit Kräutern vollstopfen, bis uns unser Verstand aus den Ohren tropft." Der Zwerg erwiderte vorerst nichts. Öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Linste zu seiner Pfeife. Nahm einen Zug, blies eine Rauchwolke in die Luft und sah ihr nach. Der Elf schüttelte nur den Kopf, winkte ab und ging. „Fertig machen zum Bogenschießen", befahl er und wand sich zum Zwerg. „Vorausgesetzt du bist nicht zu benebelt, um deinen Teil des Trainings abzuhalten."
  „Jaja, nur noch drei – fünf Züge", sagte der Zwerg und schloss die Augen.
  Aylia setzt sich auf den Boden zu den anderen Rekruten. Keiner beachtet sie. Nur ihr Schnauben und ringen nach Luft begrüßt sie. „Mach dir nichts draus, die sind immer so", sagte eine weibliche Stimme und klopfte ihr auf den Rücken. „Bruma und Uma hat er auch verdroschen, weil sie sich geprügelt haben." Aylia dreht sich zu der Stimme. Ein weiblicher Wächter mit langen Haaren - die nahezu unter ihren Helm hervorsprossen - die ihr halbes Gesicht bedeckten lächelte sie an. Wind kam auf und wehte durch die Kaserne. Ihre Haare begannen zu tanzen. Dann sah sie es. Unter normalen Umständen würde man diesen Wächter einfach als liebenswürdige junge Frau wahrnehmen, wären da nicht diese riesigen Narben, die das Gegenteil behaupteten. Wer auch immer diese Frau war, sie hatte mehr miterlebt als die meisten hier. Keiner der anderen wirkte so zugerichtet wie sie. Und doch sprach sie ganz normal wie alle anderen, als wäre nichts gewesen. Also entschloss Aylia sich es genauso zu halten. „Wer ist Uma und was ist ein Bruma?"
  Die Vernarbte lachte. „Das sind die beiden Ork Rekruten dort drüben", sagte sie und deutete auf zwei sich schubsende Gestalten. Ihre Haut wirkte etwas grünlich und bei genauerer Betrachtung ragten wirklich zwei Hauer aus ihren Mündern heraus. Die Beiden steigerten sich weiter hinein in ihr hin und her Geschubse. Bis der hellblaugrünere von beiden entschied, dass es jetzt genug sei. Sorgsam nahm er Abstand, drehte dem anderen den Rücken zu und ging einen Schritt nach vorne mit gerecktem Haupt, als sei er viel zu gut für diesen Kinderkram. Er wirbelt herum. Ballt eine Faust und fetzt sie dem anderen ins Gesicht. Der dunkelgrüne Halbork wird zu Boden geschleudert. Sofort richtet er sich wieder auf und wischt sich etwas Blut von seiner Lippe. Ein schleimiges Geräusch ertönt aus seiner Kehle, bevor er einen fetten Batzen auf den Boden spuckt. „Mach das nochmal und ich Prügel dir bis du windend am Boden liegst."
  „Sie sehen vielleicht hart aus, aber sie sind netter als du denkst", sagte der weibliche Wächter und machte ein paar Schritte nach vorne, bevor sie sich umdrehte. „Oh, bevor ich's vergesse. Ich bin Samantha."
  Samantha streckt ihr die Hand hin. „Aylia. Aylia Donnerfels, zu Diensten", antwortete sie und schlug ein.
  „Verdammt noch mal!", bellte der Elf und riss dem Zwerg die Pfeife aus dem Mund. „An die Bögen und aufstellen zum Schießtraining. Nicht mal mehr das schaffst du verdammter Krautschnüffler." Der Zwerg greift nach der Pfeife, aber der Elf hebt seinen Arm. Direkt über ihm befindet sich sein Eigentum. Doch es bringt nichts. Egal wie sehr er sich auch reckt und streckt, er erwischt sie nicht. Sprünge sollen ihm die fehlende Größe verleihen, doch auch damit kann er sie nicht erhaschen. Unwillkürlich beginnt sie zu lachen. Sie will sich auf die Lippe beißen, es unterdrücken, doch es geht nicht. Auch die anderen stimmen in das Lachen mit ein. Der kleine Zwerg, der immer wieder auf und ab hüpft, um etwas zu erreichen, dass doppelt so hoch wie er selbst entfernt ist, bietet einen zu komischen Anblick. Noch nie hatte Aylia gesehen, dass ein Zwerg gesprungen ist - und jetzt kannte sie auch den Grund dafür. „Du bist eine Witzfigur."
  „Und du ein herzloser Grambeutel."
  „Wie hast du mich genannt du Rauchschlund?"
  „Gib sie zurück."
  „Dann mach deine Arbeit!", zischte er den Zwerg an und gab ihm die Pfeife zurück. Aylia beobachtete die beiden noch eine Weile. Das waren ihre Ausbilder, diese zwei sollten ihr beibringen, wie man mit diesem Gesindel dort draußen zurechtkommt. Dabei kamen die doch noch nicht einmal miteinander zurecht.
  „Wenn man sich erstmal an alles gewöhnt hat, ist es gar nicht so schlimm. Ich wollte nach meinem ersten Tag auch gar nicht mehr hierherkommen", sagte Samantha und streckte ihr einen Bogen hin. Die anderen hatten auch schon alle Pfeil und Bogen geschultert und machten sich gerade daran zum anderen Ende des Übungsplatzes zu schlendern. Aylia und Samantha folgten der Gruppe und ließen die Beiden Streithähne hinter sich zurück. „Was hat dich umgestimmt?", fragte Aylia und hievte den Köcher über ihre Schulter. „Der Sold, der Wein und noch etwas anderes. Letzten Endes aber zählt nicht das warum, sondern nur das man geblieben ist", sagte sie und lächelte. „Wir haben alle unsere Gründe warum wir tun was wir tun. Hauptsache ist doch, dass wir das richtige tun, oder zumindest das, was wir als das Richtige empfinden." Vor einem Zaun aus Baumstämmen kamen sie zu einem Halt. Dahinter befand sich ein knorriger Baum, dessen Äste mit Zielschieben versehen wurden. Einige Arme des Baumes fanden an den Dachziegeln der Türme halt. Andere verwuchsen mit dem Stein der niederen Mauer hinter ihm. Hinter dessen Aylia das leise Plätschern des Flusses vernahm.
  „Also gut ihr Maden. Du da. Neuzugang kannst du schießen?", fuhr der Elf sie an. Aylia nahm ihren Bogen, zog einen Pfeil aus den Köcher und spannte die Sehne. Sie brauchte nur noch ein Ziel. Sie wusste, wie man schießt. Ein Leben lang hat sie trainiert. Diesem Möchtegern Kriegsfanatiker würde sie zeigen, wie gut sie schießen konnte. Dem würde sein blödes Bellen schon noch vergehen. Wenn sie erst mal sahen, was sie alles konnte würden sie sie bestimmt sofort zum Wächter machen - wenn nicht zum Ehrenwächter.
  

Das Gift der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt