Kapitel 6

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Der Morgen war kühl und neblig, als Emilia sich aus dem Bett schleppte und sich in ihren Bademantel wickelte. Der Gedanke an eine heiße Tasse Kaffee war das Einzige, das sie aus dem warmen Bett gelockt hatte. Barfuß tappte sie durch den Flur zur Wohnungstür und öffnete sie, um die Post zu holen. Der Briefkasten war voll, und sie zog den Stapel Briefe heraus, während sie noch ein Gähnen unterdrückte.

Zurück in der Wohnung setzte sie sich an den Küchentisch und begann, die Post zu durchstöbern. Rechnungen, Werbung, ein paar Briefe – nichts Ungewöhnliches. Doch dann fiel ihr ein Brief ins Auge, der sie stutzen ließ. Der Umschlag war handbeschrieben und ohne Absender. Ihr Name stand in sorgfältiger Schrift darauf. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrem Magen breit, als sie den Brief zur Seite legte und die anderen Briefe unachtsam beiseite schob.

Mit zitternden Fingern riss sie den Umschlag auf und zog ein Stück Papier heraus. Ihre Augen flogen über die ersten Zeilen, und sie fühlte, wie sich ihre Kehle zuschnürte.

Liebe Emilia,

Es fällt mir nicht leicht, dir das zu schreiben, aber ich denke, du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu wissen. Mein Name ist Anna, und ich habe eine Tochter, Lilly. Sie ist Severins Tochter.

Ich habe lange überlegt, ob ich dir schreiben soll, aber ich kann diese Wahrheit nicht länger verschweigen. Lilly ist vier Jahre alt und Severin ist ihr Vater. Er weiß von ihr, aber er hat sich entschieden, kein Teil ihres Lebens zu sein. Ich habe lange versucht, ihm die Möglichkeit zu geben, eine Beziehung zu ihr aufzubauen, aber er hat sich dagegen entschieden.

Ich schreibe dir, weil ich finde, dass du die Wahrheit kennen solltest. Vielleicht wird das deine Beziehung zu ihm verändern, und das ist mir bewusst. Ich hoffe, du verstehst, dass ich das nicht tue, um Unruhe zu stiften, sondern weil ich denke, dass es das Richtige ist.

Ich habe ein Foto von Lilly beigelegt. Du wirst sehen, dass sie ihm sehr ähnlich sieht.

Mit freundlichen Grüßen,
Anna

Emilia las den Brief erneut, ungläubig und fassungslos. Ihr Herz schlug so laut, dass sie das Blut in ihren Ohren rauschen hörte. Sie griff nach dem beiliegenden Foto und betrachtete es mit zitternden Händen. Ein kleines Mädchen mit lockigem, braunem Haar und großen, ausdrucksstarken Augen lächelte in die Kamera. Augen, die sie unwillkürlich an Severin erinnerten.

Sie konnte nicht glauben, was sie da las. Es fühlte sich an, als würde der Boden unter ihr weggezogen. Ihr Severin, der Mann, den sie liebte, hatte ein Kind – ein kleines Mädchen, von dem sie nichts wusste. Die Worte des Briefes hallten in ihrem Kopf wider, und eine Welle aus Wut und Schmerz überrollte sie.

Wie konnte Severin ihr das verheimlichen? Warum hatte er nie etwas gesagt? Fragen stürzten auf sie ein, Fragen, die sie nicht beantworten konnte, die sie aber auch nicht verdrängen konnte. Die Vorstellung, dass er eine Tochter hatte, von der er nichts wissen wollte, schockierte sie tief.

Emilia ließ das Foto auf den Tisch fallen und griff sich an den Kopf. Sie wollte schreien, weinen, doch sie fühlte sich wie gelähmt. Ihr Blick wanderte wieder zu dem Bild des kleinen Mädchens, und in ihrem Herzen mischte sich der Schmerz mit einer seltsamen Traurigkeit. Was bedeutete das alles für ihre Beziehung? Konnte sie Severin jemals wieder vertrauen?

Ihre Gedanken wurden durch das Summen ihres Handys unterbrochen. Eine Nachricht von Severin, wahrscheinlich um ihr einen guten Morgen zu wünschen. Sie ignorierte das Geräusch, unfähig, mit ihm zu sprechen oder seine Nachrichten zu lesen. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, und die Wut in ihr wuchs weiter. Wie konnte er ihr das antun? Wie konnte er so eine entscheidende Tatsache verheimlichen?

Der Tag zog sich in quälender Langsamkeit dahin. Emilia versuchte, sich abzulenken, doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Brief zurück. Die Wut über Severins Geheimnis und die Enttäuschung, dass sie es von einer Fremden erfahren musste, fraßen an ihr. Jede Nachricht von Severin blieb unbeantwortet, jede Erinnerung an ihn schmerzte. Sie versuchte, sich einzureden, dass sie eine Erklärung verdiente, dass sie ihm zuhören sollte, doch die Wunde war noch zu frisch, der Schock zu tief.

Warum hatte Anna sie kontaktiert und nicht Severin? Hatte er ihr untersagt, sich zu melden? Oder war es eine verzweifelte Tat einer Frau, die die Wahrheit ans Licht bringen wollte? Emilia wusste es nicht. Sie konnte die Absichten hinter dem Brief nicht ergründen, doch eines war klar: Ihr Leben hatte sich mit einem Schlag verändert.

Sie saß stundenlang regungslos auf der Couch, starrte ins Leere, das Foto von Lilly in den Händen. Der Tag verging, und die Nacht brach herein, aber Emilia fand keinen Frieden. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Drang, Severin sofort zur Rede zu stellen, und der Angst vor dem, was er sagen würde.

Die Ungewissheit war unerträglich, und doch konnte sie sich nicht überwinden, den Hörer in die Hand zu nehmen. Sie wollte Antworten, ja, aber noch mehr wollte sie verstehen, wie es so weit kommen konnte. Wie konnte Severin, den sie für so ehrlich und offen gehalten hatte, ein solches Geheimnis vor ihr verbergen? Konnte sie ihm jemals wieder vertrauen?

Mitten in der Nacht, als das Summen des Handys längst verstummt war und die Dunkelheit sie umhüllte, fand Emilia immer noch keinen Schlaf. Sie wusste, dass sie eine Entscheidung treffen musste, dass sie mit Severin reden musste. Aber wie konnte sie ihm in die Augen sehen, ohne dass die Wut und der Schmerz sie überwältigten?

Die kommenden Tage würden schwierig werden, das wusste sie. Ihre Beziehung stand auf dem Spiel, ihre Liebe, alles, woran sie geglaubt hatte. Aber eine Frage brannte am meisten in ihr: Was würde sie tun, wenn Severin es nicht erklären konnte? Wenn er sie tatsächlich so sehr betrogen hatte?

Als der Morgen graute, fühlte sich Emilia, als hätte sie eine Ewigkeit in dieser endlosen Nacht verbracht. Sie wusste, dass die Konfrontation unausweichlich war, aber sie brauchte Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen, ihre Gefühle zu klären. Und vor allem musste sie herausfinden, ob ihre Liebe zu Severin stark genug war, um diese Erschütterung zu überstehen.

Sonnenaufgang im Herzen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt