Kapitel 8

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Emilia und Clara saßen zusammen auf Emilias Couch, das Foto des kleinen Mädchens lag auf dem Couchtisch zwischen ihnen. Es war ein verregneter Nachmittag, und das trübe Wetter spiegelte Emilias Stimmung wider. Sie fühlte sich, als wäre sie in einem Strudel aus Unsicherheit und Misstrauen gefangen, und ihr Herz schmerzte bei jedem Gedanken an Severin.

Clara hielt das Bild in der Hand und betrachtete es aus verschiedenen Blickwinkeln. Sie war wie immer pragmatisch und direkt, eine Eigenschaft, die Emilia oft half, einen klaren Kopf zu bewahren. „Nee Emilia, ich seh da kein bisschen Ähnlichkeit," sagte Clara schließlich und legte das Bild zurück auf den Tisch.

Emilia hob eine Augenbraue und griff nach dem Foto. „Doch Clara, die Augenpartie und das Lächeln," beharrte sie, obwohl sie selbst nicht sicher war, ob sie sich das einbildete. Der Gedanke, dass dieses kleine Mädchen wirklich Severins Tochter sein könnte, war zu überwältigend, um ihn einfach abzutun.

Clara schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. „Hm... Nehmen wir mal an, es wäre wirklich seine Tochter... Wie fand diese Anna deine Adresse raus?" fragte sie, den Blick fest auf Emilia gerichtet.

Emilia seufzte tief und legte sich auf den Rücken, ließ ihren Kopf über die Lehne fallen. „Keine Ahnung. Vielleicht über die sozialen Netzwerke oder so. Ach Clara, ich weiß doch auch nicht." Sie fühlte sich erschöpft und verwirrt, als würde die Welt um sie herum auseinanderfallen.

„Frauen forschen besser als das FBI," murmelte Clara und schnappte sich Emilias Laptop. Sie begann, Severins Social-Media-Profile zu durchsuchen, während Emilia sie müde beobachtete. Clara klickte durch verschiedene Fotos, Kommentare und Freundeslisten, aber nichts schien auf eine Verbindung zu dieser Anna hinzudeuten.

„Wer weiß, ob sie überhaupt Anna heißt..." warf Emilia leise ein, ihre Unsicherheit spiegelte sich in ihrer Stimme wider. Der Gedanke, dass sie von einer Unbekannten manipuliert werden könnte, machte sie fast genauso wütend wie die Vorstellung, dass Severin ein solches Geheimnis vor ihr verborgen hatte.

„Möglich," stimmte Clara zu, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. „Aber wenn sie wirklich Kontakt aufnehmen wollte, hätte sie ja auch dich direkt anschreiben können, oder?" Sie scrollte weiter durch die Profile, suchte nach Anzeichen oder Hinweisen, die sie weiterbringen könnten.

Emilia setzte sich auf und zog die Knie an die Brust. „Ich versteh das alles nicht," sagte sie leise. „Warum sollte sie mich direkt kontaktieren? Warum nicht Severin? Das macht doch keinen Sinn..." Sie fühlte sich überwältigt von der Situation, die sich ihrer Kontrolle zu entziehen schien.

Clara nickte nachdenklich. „Vielleicht wollte sie sicherstellen, dass du es erfährst. Vielleicht dachte sie, dass Severin es dir nicht erzählen würde," mutmaßte sie. „Aber das ist alles Spekulation. Wir wissen nicht, was wirklich passiert ist."

„Genau das ist es ja," erwiderte Emilia und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich weiß nichts. Ich sitze hier und versuche, aus einem einzigen Brief und einem Foto schlau zu werden, während mein Freund..." Sie brach ab, unfähig, den Satz zu Ende zu bringen.

Clara legte den Laptop zur Seite und setzte sich neben Emilia, legte einen Arm um ihre Schulter. „Hey, du musst ihn zur Rede stellen," sagte sie sanft. „Du wirst nicht wissen, was wirklich los ist, bis du mit ihm sprichst."

Emilia hob den Kopf und schaute Clara an, ihre Augen voller Fragen und Angst. „Aber was, wenn es wahr ist? Was, wenn er wirklich ein Kind hat und mir nichts gesagt hat? Was mache ich dann?" Ihre Stimme zitterte, und sie fühlte sich, als stünde sie an einem Abgrund, nicht wissend, ob sie springen oder zurücktreten sollte.

„Dann musst du entscheiden, ob du damit leben kannst," antwortete Clara ernst. „Aber du verdienst es, die Wahrheit zu wissen. Egal, was passiert, du hast das Recht, es zu erfahren."

Die Stille im Raum wuchs, während Emilia über Claras Worte nachdachte. Sie wusste, dass ihre Freundin recht hatte, aber die Angst vor der Wahrheit lähmte sie. Sie wollte nicht, dass ihre Beziehung zu Severin auf einer Lüge aufgebaut war, aber die Möglichkeit, dass alles, was sie kannten, auf den Kopf gestellt wurde, war erschreckend.

„Du musst ihm die Chance geben, sich zu erklären," fügte Clara hinzu. „Vielleicht gibt es eine Erklärung, die du nicht erwartet hast. Aber du musst es aus seinem Mund hören."

Emilia nickte langsam, nahm das Foto des kleinen Mädchens in die Hand und betrachtete es erneut. Die Ähnlichkeit, die sie glaubte zu sehen, war wie ein ständiger Stich ins Herz. Sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob sie je einen Hinweis übersehen hatte, ob Severin jemals versucht hatte, ihr etwas zu sagen, und sie es einfach nicht bemerkt hatte.

„Ich werde es tun," sagte sie schließlich, ihre Stimme fest, obwohl ihre Hände zitterten. „Ich werde mit ihm reden, sobald er zurück ist. Ich muss es wissen, Clara. Ich kann so nicht weiterleben."

Clara drückte ihre Schulter und lächelte aufmunternd. „Das ist der richtige Weg, Emilia. Egal, was passiert, du wirst wissen, dass du es versucht hast. Und ich bin hier, egal, was kommt."

Emilia fühlte sich dankbar für Claras Unterstützung, auch wenn die Angst vor dem, was sie noch erfahren könnte, schwer auf ihr lastete. Der Abend zog sich in bedrückender Stille hin, beide Frauen in ihre eigenen Gedanken vertieft. Emilia spielte immer wieder Szenarien durch, versuchte, sich auf die verschiedenen Möglichkeiten vorzubereiten.

Doch letztendlich wusste sie, dass sie nicht wirklich vorbereitet sein konnte. Nicht auf das, was kommen würde. Nicht auf die Wahrheit, die sie vielleicht zerstören würde. Aber die Wahrheit musste ans Licht, und nur Severin konnte sie ihr geben.

Als Clara schließlich aufstand, um zu gehen, umarmten sich die beiden Frauen fest. „Du schaffst das," flüsterte Clara ihr ins Ohr. „Du bist stark, und egal, was passiert, du wirst einen Weg finden."

Emilia nickte, spürte einen Funken Hoffnung in sich aufkeimen. Sie würde die Wahrheit herausfinden, und dann würde sie entscheiden, was als nächstes kam. Aber bis dahin blieb sie in dieser schmerzhaften Unsicherheit gefangen, hin- und hergerissen zwischen Liebe und Zweifel, Vertrauen und Verrat. Der Weg vor ihr war ungewiss, aber sie wusste, dass sie ihn gehen musste, egal wohin er führte.

Sonnenaufgang im Herzen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt