Kapitel 15

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Emilia saß gegenüber von Severin im kleinen, gemütlichen Café, das sie so oft für ihre gemeinsamen Pausen wählten. Die Wände waren in warmen Tönen gehalten, und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und süßen Gebäckstücken erfüllte die Luft. Ein leises Murmeln von Gesprächen umgab sie, während die Sommerbrise durch die geöffneten Fenster wehte. Es war ein vertrauter und normalerweise beruhigender Ort, doch heute konnte Emilia die Spannung in sich nicht abschütteln.

Severin beobachtete sie aufmerksam. Ihr Blick war abwesend, sie starrte durch das Fenster auf die belebte Straße, wo Menschen geschäftig hin und her eilten. Ihre Finger spielten nervös mit der Kante ihrer Serviette. Es war nicht das erste Mal in den letzten Tagen, dass sie so wirkte, als wäre sie gedanklich ganz woanders.

„Ist alles in Ordnung?" fragte Severin, seine Stimme durchbrach die sanfte Klangkulisse des Cafés. Emilia schreckte leicht zusammen, als wäre sie aus einem Traum erwacht, und wandte ihren Blick zu ihm.

„Ja... Ja, alles in Ordnung," antwortete sie hastig und setzte ein Lächeln auf, das ihre Augen jedoch nicht erreichte. Sie legte ihre Hand auf seine, um ihn zu beruhigen, doch die Kälte ihrer Finger verriet ihre innere Unruhe. Sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu richten, aber ihr Blick wanderte wieder nach draußen.

Severin folgte ihrem Blick und konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Nur Menschen, die ihre Alltagsgeschäfte erledigten. „War da jemand?" fragte er, seine Stimme mit einem Anflug von Besorgnis.

„Ehm... Nein... Ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen..." Sie lachte nervös, als wollte sie die Situation herunterspielen. Doch Severin bemerkte das Zittern in ihrer Stimme, das sie nicht verbergen konnte. Ein mulmiges Gefühl überkam ihn. Emilia schien seit einiger Zeit anders, als ob etwas Schwerwiegendes auf ihr lastete, aber sie sprach nicht darüber.

„Ich habe das Gefühl, dass dich etwas bedrückt," sagte er vorsichtig, sich bemühend, nicht zu drängen. „Du kannst mir alles erzählen, das weißt du, oder?"

Emilia nickte, aber ihre Augen wichen seinem Blick aus. „Es ist wirklich nichts, Severin. Nur ein bisschen gestresst wegen der Arbeit, das ist alles." Sie zwang sich zu einem Lächeln, das jedoch brüchig blieb.

Severin wollte mehr sagen, sie ermutigen, ihm anzuvertrauen, was sie beschäftigte, doch er spürte, dass jetzt nicht der richtige Moment war. Sie war zu verschlossen, zu ängstlich, um darüber zu reden. Also entschied er sich, das Thema fallen zu lassen und hoffte, dass sie zu ihm kommen würde, wenn sie bereit war.

Die Zeit verstrich schnell, und Severin musste bald zurück ins Büro. Er stand auf, zahlte die Rechnung und nahm Emilias Hand, um sie sanft zu sich zu ziehen. „Wir sehen uns heute Abend," sagte er und küsste sie zärtlich auf die Lippen. Ein kurzer Moment der Nähe, doch er konnte die Distanz zwischen ihnen fühlen.

„Ja, bis später," murmelte Emilia, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Sie sah ihm nach, wie er das Café verließ, und fühlte sich plötzlich allein und verletzlich. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie nicht los. Sie wandte sich um und durchsuchte den Raum mit ihren Augen, doch niemand schien sich für sie zu interessieren.

Als sie wieder nach draußen blickte, warf sie einen prüfenden Blick in die Menge, konnte jedoch keine verdächtige Gestalt entdecken. Es war unmöglich, sich sicher zu sein, doch die ständige Anspannung machte sie paranoid. Anna schien in jeder Ecke zu lauern, unsichtbar, aber immer präsent.

Zurück in ihrem Büro, versuchte Emilia, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Der letzte Brief, den sie von Anna erhalten hatte, lag schwer auf ihrem Herzen. Die Bedrohung, die aus jeder Zeile sprach, ließ ihre Gedanken kreisen. Anna wusste, wo sie arbeitete, sie wusste sogar von Emilias Arzttermin – etwas, das sie nur mit Clara besprochen hatte.

Emilia hatte Clara nichts von dem neuen Brief erzählt. Sie wollte ihre Freundin nicht noch mehr beunruhigen. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass sie sich selbst schützen musste. Wenn sie Anna ignorierte, vielleicht würde sie dann das Interesse verlieren. Doch tief im Inneren wusste Emilia, dass dies nur eine schwache Hoffnung war.

In der Zwischenzeit saß Severin an seinem Schreibtisch und starrte auf die Bildschirme vor ihm. Die Worte und Zahlen verschwammen, er konnte sich nicht konzentrieren. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, nagte an ihm. Er dachte an Emilia und das unsichtbare Gewicht, das auf ihren Schultern zu lasten schien.

Er war versucht, sie anzurufen, doch etwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es ihre Zurückhaltung, vielleicht die Angst, dass sie etwas vor ihm verbarg. Was, wenn er sie zu sehr bedrängte und sie sich noch mehr verschloss? Doch genauso stark war der Drang, sie zu beschützen, zu verstehen, was vor sich ging.

Severin beschloss, nach der Arbeit zu Clara zu gehen. Sie war Emilias beste Freundin, wenn jemand etwas wusste, dann sie. Vielleicht konnte sie ihm helfen, zu verstehen, was Emilia bedrückte.

Als der Arbeitstag sich dem Ende neigte, fühlte Emilia sich ausgelaugt und müde. Die ständige Anspannung, die Angst, etwas falsch zu machen oder eine falsche Entscheidung zu treffen, zehrte an ihren Nerven. Sie wusste, dass sie mit Severin reden musste, ihm die Wahrheit sagen musste. Aber wie konnte sie ihn in diese Gefahr ziehen?

Sie beschloss, den Abend abzuwarten, um zu sehen, ob Severin von selbst etwas ansprach. Vielleicht konnte sie dann den Mut aufbringen, ihm alles zu erzählen. Doch als sie ihn wieder sah, seine besorgten Augen, seine zärtliche Fürsorge, verstärkte sich nur ihr Wunsch, ihn zu schützen.

Und so setzte sich das Spiel der Geheimnisse fort, ein Tanz auf der Klinge, während die Bedrohung durch Anna weiter wuchs. Emilia spürte, wie sich die Schlinge um ihr Leben enger zog, und wusste, dass die Zeit, in der sie die Wahrheit verbergen konnte, bald vorbei sein würde. Doch wann der Moment kommen würde, in dem sie alles gestehen musste, konnte sie nicht sagen. Sie wusste nur, dass sie darauf vorbereitet sein musste, die Konsequenzen zu tragen – was auch immer sie sein mochten.

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