Kapitel 16

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Emilia hielt den Umschlag mit zitternden Händen. Er war schwerer als die vorherigen Briefe, und etwas an seinem Gewicht und der Art, wie er sich in ihren Fingern anfühlte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie zog tief Luft und riss den Umschlag vorsichtig auf, bemüht, nichts zu beschädigen. Was sie herauszog, ließ ihr das Herz einen Schlag aussetzen.

Das erste, was ihr ins Auge fiel, war ein Foto. Es zeigte sie und Severin im Café, in dem sie kürzlich ihre Mittagspause verbracht hatten. Ihre Hände waren liebevoll ineinander verschränkt, und beide lächelten. Doch etwas war anders an diesem Bild. Emilias Gesicht war auf dem Foto zerkratzt, und das Papier war mit einer roten Flüssigkeit verschmiert – Kunstblut, vermutete sie.

Mit zitternden Fingern drehte sie das Foto um und sah eine Nachricht in krakeliger Schrift, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Ich habe dich gewarnt!!!" Die Worte brannten sich in ihren Verstand ein. Sie griff hektisch in den Umschlag und zog ein weiteres Foto heraus. Dieses zeigte sie und Severin bei einem Dinner, das sie vor kurzem hatten. Auch dieses Bild war verschmiert mit Kunstblut, und erneut war ihr Gesicht zerkratzt.

Unter den Fotos fand sie einen Brief, ebenfalls mit Kunstblut bespritzt. Ihre Augen huschten über die Zeilen, und ein Kälteschauer lief ihr über den Rücken.

„Emilia, ich habe dir gesagt, du sollst dich fernhalten. Aber du hast nicht auf mich gehört. Glaub mir, ich kann dir das Leben zur Hölle machen. Ich weiß, wo du arbeitest, ich weiß, wo du wohnst, und ich weiß, dass du nicht auf mich hörst. Was mit Lia passiert ist, war nur der Anfang. Du willst nicht, dass es dir genauso ergeht. Du wirst mich nicht ignorieren können. Ich werde dafür sorgen, dass du es bereust, Severin gestohlen zu haben."

Emilia las die Worte und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie sanken auf den Küchenboden, als die Realität der Situation sie mit voller Wucht traf. Die Bedrohung war real, und Anna war gefährlich entschlossen, ihr weh zu tun. Die Bilder, das Kunstblut, die unheilvollen Worte – alles fühlte sich an wie ein schrecklicher Albtraum, aus dem sie nicht entkommen konnte.

Sie weinte leise, die Tränen liefen ungehindert über ihre Wangen. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Anna war nicht nur krankhaft besessen, sie war auch bereit, jeden zu schädigen, der sich ihr in den Weg stellte. Emilia konnte Severin nicht länger in diese Gefahr hineinziehen. Es war nicht fair, ihn unwissentlich in solch eine prekäre Situation zu bringen. Und wenn Anna erst einmal herausfand, dass sie trotz ihrer Drohungen weiter mit Severin zusammen war, könnte sie noch gewalttätiger werden.

Als die Tränen nachließen, traf Emilia eine schmerzhafte Entscheidung. Sie würde mit Severin Schluss machen, aber ohne ihm den wahren Grund zu nennen. Er würde es nicht verstehen, würde sie nicht gehen lassen wollen, aber sie musste ihn beschützen – selbst wenn das bedeutete, dass sie ihn belügen musste. Die Liebe, die sie für ihn empfand, musste hinter der Notwendigkeit zurückstehen, ihn zu schützen.

Noch einmal las sie die Worte auf dem Foto: „Ich habe dich gewarnt!!!" Sie wusste, dass sie nicht länger warten konnte. Die Zeit, in der sie die Bedrohung ignorieren konnte, war abgelaufen. Sie konnte nur hoffen, dass Severin stark genug war, weiterzumachen, auch ohne sie.

Als Severin später an diesem Tag zu ihr kam, begrüßte sie ihn mit einem traurigen Lächeln. Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken, was sie tun musste. Sie zwang sich, die Angst und den Schmerz zu unterdrücken und das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Severin, wir müssen reden," begann sie, ihre Stimme zitterte leicht. Sie saß auf der Couch, die Hände fest ineinander verschränkt, um das Zittern zu verbergen.

„Was ist los?" fragte er, seine Stirn legte sich in Falten. „Geht es um diese Sache mit Anna? Ich wollte sowieso darüber sprechen. Ich..."

„Nein," unterbrach sie ihn, ihre Stimme fester, als sie sich fühlte. „Es geht nicht um Anna. Es geht um uns. Ich denke, es ist besser, wenn wir uns trennen."

Severin starrte sie ungläubig an. „Was? Emilia, was redest du da? Du... willst Schluss machen?"

„Ja, ich glaube, das ist das Beste. Für uns beide." Sie konnte die Tränen kaum zurückhalten, doch sie zwang sich, stark zu bleiben. „Ich habe viel nachgedacht, und ich glaube einfach, dass wir nicht zusammenpassen. Es tut mir leid, dass es so plötzlich kommt, aber... ich habe das Gefühl, dass es das Richtige ist."

Severin sprang auf, seine Augen glitzerten vor Tränen und Wut. „Das ist nicht wahr. Da ist etwas anderes, ich weiß es. Es ist wegen Anna, nicht wahr? Was hat sie dir gesagt?"

Emilia schüttelte den Kopf. „Es hat nichts mit ihr zu tun. Ich habe einfach gemerkt, dass wir... dass ich das nicht mehr kann. Es tut mir leid, Severin." Sie stand auf und ging zur Tür, ihre Hände zitterten unkontrolliert.

„Du lügst," sagte Severin, seine Stimme brach. „Bitte, Emilia, erzähl mir die Wahrheit. Was auch immer es ist, wir können es zusammen durchstehen."

„Es ist besser so," wiederholte sie und öffnete die Tür. „Bitte geh jetzt."

Severin blieb einen Moment lang stehen, als könne er nicht glauben, was geschah. Dann drehte er sich um, seine Schultern sanken, und er verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort. Die Tür fiel mit einem leisen Klick ins Schloss, und Emilia brach in Tränen aus. Die Trennung tat ihr im Herzen weh, doch sie wusste, dass es notwendig war. Um Severin zu schützen und um Anna keine weitere Angriffsfläche zu bieten.

In den kommenden Tagen fühlte sich Emilia wie betäubt. Sie ging ihrer Arbeit nach, sah Clara und sprach mit anderen Freunden, doch in ihrem Inneren war sie zerrissen. Sie vermisste Severin schrecklich, sein Lachen, seine Umarmungen, die kleinen Gesten, die ihren Tag erhellten. Doch sie hielt durch, entschlossen, das Richtige getan zu haben.

Anna hatte ihr gezeigt, wozu sie fähig war. Die Bilder, die Drohungen – es war klar, dass sie vor nichts zurückschrecken würde, um das zu bekommen, was sie wollte. Emilias einzige Hoffnung war, dass sie genug getan hatte, um Severin zu schützen, auch wenn sie dafür ihr eigenes Glück opfern musste.

Der Schmerz über die Trennung und die Angst vor Anna waren überwältigend, doch Emilia klammerte sich an die Hoffnung, dass sie irgendwann einen Weg finden würde, aus dieser Situation herauszukommen. Vielleicht würde Anna irgendwann das Interesse verlieren und sich jemand anderem zuwenden. Bis dahin musste sie stark bleiben, für sich selbst und für Severin.

Die Nachwirkungen des Abschieds waren schwer zu ertragen. Emilia fand es kaum erträglich, in ihrer Wohnung zu sein, in der so viele Erinnerungen an Severin lebendig waren. Jeder Raum, jedes Möbelstück erinnerte sie an die glücklichen Momente, die sie zusammen erlebt hatten. Doch sie zwang sich, nicht zurückzublicken. Sie wusste, dass sie sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren musste, auf das Überleben in der Gegenwart.

Die Tage vergingen schleppend, und jedes Mal, wenn das Telefon klingelte oder sie einen Brief erhielt, zuckte sie zusammen. Sie wusste nicht, ob es eine weitere Nachricht von Anna sein würde oder ein verzweifelter Versuch von Severin, sie zu erreichen. Sie hatte sich entschieden, ihm nicht zu antworten, um ihn nicht weiter in Gefahr zu bringen. Die Isolation, die sie sich selbst auferlegt hatte, war unerträglich, aber notwendig.

Emilia wusste, dass sie in einer schwierigen Situation steckte. Sie konnte sich niemandem anvertrauen, ohne das Risiko einzugehen, dass Anna noch weiter eskalieren würde. Und dennoch hoffte sie, dass sie eines Tages einen Ausweg finden würde, dass sie wieder Frieden finden könnte.

Doch für den Moment musste sie sich der Realität stellen, dass sie in einem Spiel gefangen war, dessen Regeln von jemand anderem diktiert wurden. Und sie wusste, dass sie nur eines tun konnte: weitermachen, einen Tag nach dem anderen, in der Hoffnung, dass das Licht am Ende des Tunnels nicht zu weit entfernt war.

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