Kapitel 12

3 2 0
                                    

Severin spürte, wie die Worte in ihm kämpften, ans Licht zu kommen. Die Erinnerungen, die er jahrelang vergraben hatte, fluteten zurück, überfluteten seine Gedanken mit Schmerz und Schuld. Emilia saß ihm gegenüber, ihre Augen waren weit geöffnet, die Hand, die seine hielt, zitterte leicht. Er konnte sehen, dass sie nicht nur schockiert, sondern auch tief besorgt war. Ihre Nähe, die Art, wie sie ihn ansah, gab ihm den Mut, weiterzusprechen.

„Vor sieben Jahren," begann Severin, seine Stimme war leise, aber klar, „hatte ich eine Freundin. Lia. Sie war... wundervoll. Liebenswürdig, intelligent, voller Leben." Ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich an Lia erinnerte. Doch das Lächeln verschwand schnell, als die düsteren Erinnerungen zurückkehrten. „Wir waren glücklich zusammen, wirklich glücklich. Aber dann... kam Anna."

Emilia nickte, ihre Augen suchten seine, in ihnen spiegelten sich Mitgefühl und Neugier wider. „Was hat sie getan?" fragte sie leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Sie konnte fühlen, dass dies ein schwerer Moment für ihn war, und sie wollte ihn nicht drängen. Doch sie wusste auch, dass er diese Geschichte erzählen musste, um Frieden zu finden.

Severin holte tief Luft, sein Blick wanderte kurz zur Seite, bevor er sich wieder auf Emilia konzentrierte. „Ich habe Anna in einer Bar kennengelernt. Es war ein normales Gespräch, nichts Besonderes. Aber für sie war es... mehr. Sie dachte, ich wäre ihr Seelenverwandter, dass wir füreinander bestimmt wären. Ich habe das erst nicht ernst genommen, dachte, sie wäre einfach ein bisschen exzentrisch. Doch dann wurde es ernst."

Er zögerte, die nächsten Worte schienen ihm schwer zu fallen. „Anna begann, mir nachzuspionieren. Sie fand heraus, wo Lia und ich wohnten, wann wir uns trafen, wo wir hingingen. Sie lauerte uns auf, immer wieder, manchmal wochenlang ohne ein Zeichen, und dann plötzlich tauchte sie auf. Immer wieder, mit dem gleichen, wahnsinnigen Blick in ihren Augen."

Emilias Gesicht veränderte sich, Entsetzen und Mitleid mischten sich in ihren Zügen. „Hat sie euch bedroht?" fragte sie, ihre Stimme war jetzt kaum mehr als ein Flüstern.

Severin nickte, seine Augen glänzten, als er weitersprach. „Zuerst waren es nur Briefe. Dann Anrufe, immer mitten in der Nacht. Drohungen, erst gegen mich, dann gegen Lia. Sie sagte, sie würde alles tun, um uns auseinanderzubringen, um mich zu ‚befreien', wie sie es nannte. Wir haben die Polizei eingeschaltet, aber ohne handfeste Beweise konnten sie nichts tun. Sie sagte, sie würde Lias Leben zur Hölle machen, und das hat sie auch geschafft."

Er schluckte schwer, die Worte kamen jetzt schneller, als ob er sie endlich loswerden wollte. „Lia hat versucht, es zu ignorieren, stark zu bleiben, aber es war zu viel. Die Angst, die ständige Bedrohung... es hat sie zermürbt. Sie hat angefangen, sich zurückzuziehen, Freunde und Familie zu meiden. Am Ende... konnte sie nicht mehr." Severin spürte, wie seine Kehle sich zuschnürte, Tränen brannten in seinen Augen. „Eines Tages... habe ich sie gefunden. Sie hatte sich das Leben genommen. Wegen Anna."

Emilia schluckte schwer, ihre Augen füllten sich ebenfalls mit Tränen. Sie konnte die Tiefe von Severins Schmerz spüren, die Last, die er all die Jahre mit sich herumgetragen hatte. „Severin..." flüsterte sie, unfähig, die richtigen Worte zu finden.

Severin schloss kurz die Augen, kämpfte gegen die Tränen an, bevor er weitersprach. „Anna wurde festgenommen, aber sie konnte nicht lange festgehalten werden. Sie behauptete, sie hätte nichts damit zu tun, und es gab keine Beweise, die ihre direkte Verwicklung in Lias Tod bewiesen. Sie wurde in eine psychiatrische Einrichtung gebracht, aber anscheinend ist sie jetzt wieder draußen. Und jetzt... ist sie auf der Suche nach mir. Und sie weiß von dir, Emilia."

Emilia atmete tief ein, ihre Hand zitterte immer noch leicht, als sie Severins Hand noch fester drückte. „Warum hast du mir das nicht früher gesagt?" fragte sie, ihre Stimme klang ruhig, aber in ihren Augen lag eine Tiefe, die Severin erschreckte.

„Ich wollte dich nicht gefährden," antwortete Severin sofort. „Ich dachte, wenn ich die Vergangenheit ruhen lasse, wenn ich Anna ignoriere, würde sie vielleicht aufgeben. Aber ich habe mich geirrt. Und jetzt habe ich dich mit hineingezogen. Es tut mir so leid, Emilia. Ich wollte dich beschützen."

Emilia ließ seine Hand los und stand auf, ging ein paar Schritte durch das Zimmer, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Die ganze Situation schien surreal, als ob sie aus einem Albtraum nicht erwachen könnte. Aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Severin die Wahrheit sagte. Die Trauer und der Schmerz in seinen Augen waren echt, die Geschichte klang zu bizarr, um erfunden zu sein.

„Severin," begann sie schließlich, ihre Stimme war fester als zuvor, „du musst zur Polizei gehen. Wir müssen sie informieren, dass Anna wieder da ist und dass sie uns bedroht. Wir können das nicht alleine lösen."

Severin nickte, erleichtert, dass Emilia ihn verstand und nicht verurteilte. „Ich weiß. Und das werde ich auch tun. Aber Emilia, bitte, sei vorsichtig. Sie ist gefährlich und unberechenbar."

Emilia sah ihn an, ihr Blick war entschlossen. „Wir werden das gemeinsam durchstehen," sagte sie, ihre Stimme war ruhig und bestimmt. „Ich lasse mich nicht einschüchtern. Nicht von ihr, und nicht von irgendjemand anderem. Wir werden herausfinden, was sie wirklich will und dann dafür sorgen, dass sie nie wieder jemandem schadet."

Severin fühlte eine Welle der Erleichterung und Bewunderung für Emilia. Trotz der schrecklichen Geschichte und der Gefahr, in der sie sich befanden, war sie stark und entschlossen. Sie hatte sich nicht von der Angst überwältigen lassen, sondern stand fest an seiner Seite. „Danke," flüsterte er, unfähig, mehr zu sagen.

Emilia trat zu ihm, legte eine Hand auf seine Wange und sah ihm tief in die Augen. „Wir schaffen das," sagte sie sanft. „Aber du musst mir versprechen, dass du ehrlich zu mir bist, egal was passiert."

Severin nickte, Tränen standen in seinen Augen. „Ich verspreche es. Von jetzt an keine Geheimnisse mehr."

In diesem Moment schien die Welt um sie herum stillzustehen, die Schwere der Situation wurde von einer neuen Entschlossenheit durchdrungen. Sie wussten, dass der Weg vor ihnen steinig und gefährlich sein würde, aber sie waren bereit, ihn gemeinsam zu gehen. Die Wahrheit war ans Licht gekommen, und mit ihr eine neue Hoffnung, dass sie Anna und ihre dunklen Pläne ein für alle Mal besiegen könnten.

Sonnenaufgang im Herzen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt