Kapitel 9

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Emilia saß noch benommen in ihrem Sessel, als das Telefon klingelte. Sie hatte die Nacht kaum geschlafen, ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um Severin und die geheimnisvolle Anna. Als sie den Hörer abnahm, rechnete sie mit einem weiteren Kundenanruf oder einer Routinefrage von der Arbeit.

„Emilia Reichert?" sagte sie, ihre Stimme klang müde.

„Hallo Emilia, hier ist Anna." Augenblicklich riss sie die Augen auf und setzte sich aufrecht hin. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und die Müdigkeit war sofort verflogen.

„Anna?" fragte sie, während sie versuchte, ihre aufkeimende Nervosität zu unterdrücken. Es war die gleiche Anna, die ihr den Brief geschickt hatte, die Frau, die behauptete, Severins Tochter zu kennen.

„Ja... Ich habe dir den Brief geschrieben. Wegen Severin und Lilly." Annas Stimme klang ruhig, fast sachlich, als ob sie über eine alltägliche Angelegenheit sprach.

Emilia zog die Augenbrauen zusammen. Wie hatte Anna ihre Telefonnummer herausgefunden? Sie schielte zum Display des Telefons, aber die Nummer war nicht zu erkennen. Ein merkwürdiges Gefühl kroch in ihr hoch, eine Mischung aus Misstrauen und Unbehagen. Sie drückte unauffällig die Taste zur Sprachaufzeichnung und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

„Ich möchte dich treffen und dass du Lilly kennenlernen kannst," fuhr Anna fort, als ob dies der natürlichste Wunsch der Welt wäre.

Emilia war sprachlos. Sie hatte keine Ahnung, wie sie reagieren sollte. Der Gedanke, diese Frau und das Mädchen zu treffen, überforderte sie. Ein Teil von ihr wollte einfach nur auflegen und so tun, als wäre das alles nie passiert. Doch ein anderer Teil, der stärker war, wollte die Wahrheit wissen, wollte die Geheimnisse entwirren, die ihr Leben plötzlich überlagerten.

„Ähm... warum sollte ich Lilly kennenlernen?" fragte sie schließlich, bemüht, ruhig zu bleiben. „Ich kenne Sie doch gar nicht und..." Sie brach ab, unsicher, wie sie fortfahren sollte.

„Weil sie Severins Tochter ist," antwortete Anna kühl. „Ich denke, es ist nur fair, dass du weißt, mit wem du eine Beziehung führst. Und ich glaube, es ist wichtig, dass Lilly auch ihre Familie kennenlernt." Emilias Gedanken rasten. Was für ein Spiel spielte diese Frau? Warum machte sie das alles? Und warum schien Severin nichts davon zu wissen?

„Ich... ich weiß nicht," stammelte sie. „Ich muss darüber nachdenken."

„Natürlich, nimm dir die Zeit, die du brauchst," sagte Anna, ihre Stimme freundlich. „Aber ich denke, es wäre gut, wenn wir uns bald treffen könnten. Lilly hat viele Fragen, und ich möchte ehrlich mit ihr sein."

Emilia versprach, sich zu melden, und legte auf. Sie fühlte sich, als wäre sie in einen Albtraum hineingezogen worden, aus dem sie nicht aufwachen konnte. Ihre Hände zitterten leicht, und sie versuchte, tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen. Sie drückte den Knopf, um die Aufnahme abzuspielen, und lauschte der Unterhaltung erneut, in der Hoffnung, irgendwelche Hinweise zu finden, die sie zuvor übersehen hatte.

Später, als Clara vorbeikam, um nach ihr zu sehen, spielte Emilia ihr die Aufnahme vor. Clara hörte aufmerksam zu, ihr Gesicht war eine Maske des Nachdenkens. Als die Aufnahme endete, lehnte sich Clara zurück und verschränkte die Arme.

„Das klingt wirklich seltsam," sagte Clara. „Vor allem, dass sie jetzt deine Nummer hat. Und wie sie spricht, so ruhig und sicher. Es wirkt fast... inszeniert."

Emilia nickte, ihre eigenen Zweifel wurden durch Claras Worte verstärkt. „Genau das habe ich auch gedacht. Es passt einfach nicht zusammen. Warum sollte sie das tun? Und warum sollte Severin mir nichts sagen?"

Clara überlegte einen Moment, dann sah sie Emilia ernst an. „Vielleicht will sie dir wirklich nur helfen, die Wahrheit herauszufinden. Oder vielleicht gibt es noch eine andere Agenda. Aber du musst herausfinden, was los ist. Ich denke, du solltest dem Treffen zustimmen, aber ich komme mit dir."

Emilia war erleichtert über Claras Unterstützung, aber sie war sich immer noch unsicher. „Was, wenn es eine Falle ist? Was, wenn sie uns reinlegen will?"

Clara schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass es gefährlich ist. Aber wir müssen vorsichtig sein. Wir können uns an einem öffentlichen Ort treffen, wo es sicher ist. Und wenn irgendetwas merkwürdig erscheint, können wir einfach gehen."

Emilia stimmte zu, auch wenn sie sich mulmig fühlte. Sie wusste, dass sie der Wahrheit nicht länger ausweichen konnte, egal wie schmerzhaft sie sein könnte. Der Gedanke, dass Severin ihr vielleicht ein so großes Geheimnis vorenthalten hatte, tat weh, aber sie musste es herausfinden.

Die nächsten Tage verbrachte Emilia in einem Zustand nervöser Anspannung. Sie schaffte es kaum, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und jede Nachricht oder jeder Anruf ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie hatte Severin immer noch nicht kontaktiert; ein Teil von ihr wollte ihm in die Augen sehen, wenn sie ihn mit dem konfrontierte, was sie erfahren hatte. Sie konnte einfach nicht glauben, dass er sie so belogen haben könnte. Aber das Bild des Mädchens und die Entschlossenheit in Annas Stimme ließen sie an allem zweifeln.

Clara und Emilia verabredeten sich schließlich mit Anna in einem Café in der Innenstadt, einem neutralen Ort, der ihnen Sicherheit bot. Die Minuten vor dem Treffen zogen sich quälend in die Länge, und Emilia fühlte, wie die Anspannung in ihr wuchs. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwarten würde, aber sie wusste, dass dies ein Wendepunkt in ihrem Leben sein könnte.

Als sie Anna schließlich trafen, stellte sich die Frau als freundlich und ruhig heraus, doch Emilia spürte immer noch eine unterschwellige Anspannung. Anna erklärte, dass sie Severin vor Jahren kennengelernt hatte und dass Lilly aus dieser Beziehung stammte. Sie zeigte Fotos und erzählte Geschichten, doch Emilia konnte sich nicht von dem Gedanken lösen, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte das Gefühl, als würde sie in ein Puzzle gezogen, dessen Teile nicht zusammenpassten.

Clara beobachtete das Gespräch aufmerksam, und als sie später zusammen das Café verließen, war sie ebenso ratlos wie Emilia. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll," sagte sie, während sie die Straße hinuntergingen. „Ein Teil von mir glaubt ihr, aber ein anderer Teil... da stimmt etwas nicht."

Emilia nickte, ihre Gedanken immer noch wirr. „Ich fühle mich genauso. Ich weiß einfach nicht, was ich glauben soll. Aber ich kann nicht einfach wegsehen. Ich muss es herausfinden, egal wie schmerzhaft es ist."

Die beiden Freundinnen verabschiedeten sich, und Emilia ging nach Hause, das Gewicht der ungewissen Zukunft lastete schwer auf ihren Schultern. Sie wusste, dass sie sich dem Gespräch mit Severin stellen musste, dass sie die Wahrheit brauchte, um Frieden zu finden. Aber die Angst vor dem, was sie entdecken könnte, nagte an ihr, und sie fragte sich, ob sie stark genug war, die Antworten zu ertragen, die sie suchte.

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