Paralysiert (Oskars Sicht)

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Ich wusch mir das Gesicht und starrte mit einem leeren Gesichtsausdruck in den Spiegel und suchte verzweifelt nach einer Antwort. Der Schlafmangel machte sich allmählich bemerkbar und zeichnete mich mit tiefen Schatten unter meinen Augen. Es raubte mir viel Energie, jede Nacht in Minas Träumen zu wandeln, aber trotzdem konnte ich nicht anders. Vielleicht war es wirklich... Liebe? Der Wunsch die Menschenwelt erneut zu betreten wuchs fast ins unermessliche. Ich war wie besessen von ihr, ihrem Wesen, ihrem Körper... und diese unstillbare Gier drohte mich zu beherrschen. Es zerfraß mich innerlich nicht bei ihr sein zu können und ich ertrug es nicht, dass sie dem Wahnsinn, in den ich sie trieb, immer mehr verfiel. Sie zeifelte an sich selbst und stellte unsere Begegnung in Frage, was mir zu denken gab. Verbissen sah ich mir entgegen und schlug zornig gegen den Spiegel. "Sei nicht so ein Feigling! Jetzt oder nie!", knurrte ich und verlor entgültig die Geduld. Ich wollte sie wenigstens ein letztes Mal noch sehen, bevor mich meine Bestimmung davon abhalten würde. Ich glaubte, meine Kräfte genug trainiert zu haben und erschuf kurzerhand ein Portal, was mich direkt nach New York City bringen sollte. Ich war nicht mehr in der Lage rational zu denken. Ich musste sie einfach finden! Meine übernatürlichen Sinne waren auf scharf gestellt und verfolgten sofort ihre Spur. Ihr Geruch war einfach unverkennbar und führte mich direkt vor den Einlass einer Bar in Chinatown. Warum trieb sie sich hier am frühen Abend herum? Wieder brodelte es in mir. Der Gedanke, dass sie sich mit anderen treffen würde, war mir wie ein Dorn im Auge. Ich atmete tief und betrat voller Unwissen das Lokal. Das Ambiente und das Neonlicht gaben mir sofort Aufschluss, um was es sich hierbei handelte. Ich knurrte und fletschte unbewusst die zähne. Ich musste sie finden und hier wegschaffen. Wo war sie? Ich konnte ihre Durftspur in der Luft sehen und riechen. Sie war überall verteilt und vernebelte meinen Verstand. Ich setzte mich vorerst an die Bar und bestellte mir etwas, um nicht weiter aufzufallen. Gierig suchte ich nach ihr und sah endlich eine mir so bekannte Haarsträhne aufblitzen. Endlich. Elegant und verspielt bediente sie die Tische und trug dabei 3 Tabletts auf einmal. Warum hatte sie mir das nicht gesagt? Ich wusste nur, dass sie Journalismus studieren wollte. Flink bewegte sie sich durch den Raum und bemerkte mich gar nicht, als sie direkt an mir vorbeizog. Wenn ich nicht auffallen wollte, musste ich mich wohl oder übel in Geduld üben und trank schließlich etwas von meinem Getränk. Plötzlich spürte ich eine zärtliche Berührung auf meiner Schulter. "Hallo mein Süßer! Was für eine willkommene Abwechslung. Darf ich dir den Abend ein wenig versüßen, oder suchst du... etwas Bestimmtes.", fragte mich eine junge Dame veführerisch und schlich um mich herum, wie eine Katze auf der Jagt. Ich interessierte mich jedoch nur für die Eine und ließ sie abblitzen. "Etwas Bestimmtes trifft es ganz gut."

"Ich kann alles für dich sein Schnuckelchen!", flirtete sie und rückte mir auf die Pelle. "Das wage ich zu bezweifeln, trotzdem danke für das charmante Angebot." Erhabenen Hauptes trat sie ab und suchte sich ein nächstes, bereitwilligeres Opfer. Ich drehte mich wieder Richtung Theke und sah sie nun direkt vor mir. Mein Herz raste! Das war meine Chance! "Mina.", sprach ich sie an und fixierte sie mit meinen Blicken. Ein Klirren ertönte. Sie ließ vor Schreck das Glas fallen und stand offensichtlich unter Schock. Hektisch und verängstigt sah sie sich um und fing an, alles vom Boden aufzukehren. "Verdammter Mist... Was machst du hier? Du kannst nicht hier sein! Du bist nicht echt! Ich muss arbeiten! Verschwinde aus meinen Gedanken!", sprach sie aufgebracht vor sich her und blieb dabei in Bewegung. "Ich wollte dich sehen. Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe...", begann ich und hoffte, dass sie sich beruhigen würde. Sie trat ungläubig an den Thresen heran und schaute mir direkt in die Augen. Ganz langsam und zaghaft berührte sie meine Hand. Ihre Augen weiteten sich, als sie feststellte, dass sie mich wirklich spüren konnte. "Ich versteh es nicht..." Sie drohte zu zerbrechen und ich sah die Verzweiflung in ihrem Blick. "Komm mit mir und lass es mich erklären... bitte." Abwehrend schüttelte sie den Kopf und fing an irgendwelche Getränke zu mixen. "Du hast mich Monate lang warten lassen. Ich habe nicht eine einzige Nachricht von dir bekommen. Stattdessen schleichst du dich in meine Träume und raubst mir meine allerletzten Nerven! Gott weiß, wie du das anstellst, aber so funktioniert das nicht! Verschwinde einfach und lass mich arbeiten! Wenn mein Boss mitbekommt, dass ich dich kenne, bin ich gefeuert!", zeterte sie leise und sah sich erneut um. Ihre feurige, temperamentvolle Art forderte mich wirklich heraus. Vorallem, weil ich für gewöhnlich gar nicht der Typ war, der den Ton angab. "Lass es mich bitte erklären... Ich weiß, dass du mich genauso vermisst hast, wie ich dich..." Sie schnappte sich ihr gefülltes Tablett und war gerade dabei sich auf den Weg zu machen, als sie sich nochmal zu mir umdrehte. "Du hast mich warten lassen und jetzt lasse ich dich warten! Ich arbeite zu Ende und danach bekommst du eine einzige Chance... EINE EINZIGE!" Danach huschte sie mit den Bestellungen durch das Lokal und flirtete mit den Kunden. Ich kochte vor Eifersucht und hätte wirklich große Lust dazu gehabt, sie einfach zu manipulieren, aber würde ich sie zwingen, würde sie mich wohl eher hassen. Ich musste also diese bitteren Gefühle runterschlucken und versuchte mich mit Alkohol zu betäuben. Immer wieder kam sie kurzzeitig an die Bar und raubte mir mit ihren Bewegungen und Blicken den Verstand. "Warum schaust du dir nicht die Show an?", fragte sie irgendwann ganz nebenbei, als sie einige Gläser spülte. "Ich bin wegen dir hier und außerdem... interessiere ich mich nicht für so etwas. In meiner Welt gibt es genügend Obzönitäten! So eine kleine Bar bringt mich nicht aus dem Konzept.", antwortete ich und versuchte cool zu bleiben. Sie zog die Augenbrauen nach oben und grinste frech. "Hm... Manchmal ändern sich die Umstände Honey..." Danach verschwand sie und ich fragte mich, was sie damit meinte. Ungeduldig wartete ich und fragte mich, wo sie nur so lange blieb. Ich kippte den nächsten Shot hinunter und sah mich aufmerksam um. Das Scheinwerferlicht veränderte sich gerade, als eine neue Tänzerin die Bühne betrat. Ich schnappte nach Luft, als ich bemerkte, dass sie es war. "Sometimes I feel I've got to run away. I've got to get away from the pain you drive into the heart of me. And the love we share seems to go nowhere. I've lost my light. For I toss and turn, I can't sleep at night..." Ich war wie hypnotisiert und kämpfte gegen das dämonische Wesen in mir. Es durfte mich nicht beherrschen! Meine Krallen bohrten sich in meine Handflächen. Niemand außer ich würde sie besitzen. Am liebsten hätte ich alle, die sie in diesem Moment ansahen auf der Stelle getötet. Meine Nerven ertrugen es nicht, sie auf diese Art und Weise tanzen zu sehen. Ich musste sie hier wegschaffen und ich war nicht bereit mich auf weitere Spielchen einzulassen. Plötzlich stieg sie von der Bühne herunter und lief geradewegs auf mich zu. Mir rutschte wortwörtlich das Herz in die Hose und ich war wie versteinert. Sie berührte mein Gesicht und strich mir die pechschwarzen Haare zur Seite. "Touch me baby, tainted love..." Der intensive Geruch von Vanille und Zedernholz, der von ihr ausging, entfesselte das Raubtier in mir. "Du wirst dich jetzt umziehen und mit mir kommen!", flüsterte ich ernst und spürte, wie ihre Hände an meinem Oberkörper hinabglitten. "Was, wenn nicht?", fragte sie aufreizend und drückte mich zurück gegen die Lehne des Barhockers. Meine Geduld hatte sein Ende erreicht. Ich schaute sie eindringlich an und manipulierte sie. Es tat mir leid, dass ich so weit gehen musste, aber ich hatte das Gefühl, dass sie mir keine Wahl gab. Ihre Augen verloren schlagartig ihren Glanz und wirkten leer, fast schon verloren. Ich hatte diese Fähigkeit noch nicht lange und war etwas erschrocken von ihrem Verhalten. Sie tat, was ich verlangte, und beendete ihren kleinen Auftritt. Nur kurze Zeit später stand sie umgezogen vor mir und starrte immer noch ins Leere. "Hey Mina! Was soll das werden? Du kannst jetzt noch nicht gehen.", rief ihr auf einmal jemand entgegen, der auf uns zueilte. Sie reagierte nicht und blieb ohne Ausdruck stehen. Verdammt! Was sollte ich jetzt tun? Im Grunde käme es mir gelegen, wenn sie gefeuert werden würde, aber ich durfte nicht so egoistisch sein, also versuchte ich die Situation zu regeln. Ich räusperte mich und zog Mina schützend an mich. "Offenbar muss sie vergessen haben Ihnen Bescheid zu geben. Ich sollte sie abholen kommen, weil es ihr nicht gut geht!", log ich und versuchte selbstbewusst zu sein. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich argwöhnisch. "Ach so? Stimmt das Schätzchen? Was bist du denn überhaupt für einer?", fragte er mit rauchiger Stimme. Wenigstens machten Minas glasige Augen wirklich den Eindruck, als sei sie krank. "Ich bin ihr... Freund.", antwortete ich zögerlich und hoffte, dass er es schlucken würde. "Ach wirklich? Das ist ja mal etwas ganz Neues, aber gut... Sie soll zusehen, dass sie mir das nächste Mal Bescheid gibt, ansonsten muss sie sich einen neuen Job suchen und so viel wie hier, wird sie nirgends verdienen! Dann kann sie ihr Studium vergessen!", brummte er und wendete sich schließlich ab. Das war also der Grund für all das hier. Ich schaffte sie hinaus und verschwand mit ihr in einer zwielichtigen Gosse. "Mina, wach wieder auf!", forderte ich sie auf und rüttelte an ihren Schultern. Ohne Erfolg. Allmählich bekam ich Panik! Was hatte ich nur getan? Ich wollte sie doch nur von dort wegschaffen und nun war sie ein willenloser Roboter. "Fuck.", fluchte ich und versuchte sie weiter aus ihrer Trance zu holen. Vergebens. Was sollte ich nun tun? Ich konnte sie unmöglich hier zurücklassen, aber bei ihr bleiben konnte ich auch nicht. Zum einen, weil ich mich noch nicht so gut im Griff hatte, dass ich es auf Dauer schaffen würde mich nicht zu verraten und zum anderen musste ich mir eingestehen, dass ich ihr nicht helfen konnte. Ich war zu unerfahren und hatte keinen Schimmer, warum sie nicht einfach wieder zu sich kam. Mir blieb also nur eine Wahl. Ich musste sie mit mir nehmen! Da ich nicht wusste, wie viel sie mitbekam, hielt ich es für das Beste sie einschlafen zu lassen. Es war beängstigend, dass sie wie ein wackliges Streichholzkonstruckt zusammensackte. Ich hielt sie fest und hob sie in einem Ruck auf meine Arme. "Es wird alles wieder gut! Das verspreche ich dir!", sagte ich leise, kurz bevor ich mit ihr das Portal durchquerte. Ich legte sie behutsam in mein Bett und nahm mir sofort ein Buch zur Hand, um eventuell selbst auf die Problemlösung zu stoßen. Verzweifelt blätterte ich die Seiten um, wusste aber nicht, wo ich anfangen sollte zu suchen. Dieses Mal würde Dad sicher ausflippen, dachte ich und schluckte schwer, als ich zu Mina blickte. Hätte ich doch nur auf ihn gehört...

Aus dem Schatten der Einsamkeit mitten ins Herz Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt