» Kapitel 08

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»Ich muss jetzt wirklich los.«, entschuldigend blickte Lenny mich an, als er seine restlichen Bücher von meinem Schreibtisch fischte und sie in seine viel zu kleine Tasche stopfte. »Ich werde alles notieren, mitschreiben und hoffentlich auch verstehen. Ich setz mich danach noch mit den anderen zusammen, um den Stoff für die Klausur durchzugehen. Wenn du Zeit hast, melde dich bitte. Und melde dich auch so, ich will wissen, wie es dir geht. Ach ja und grüß Emmi ganz lieb.«, er raufte sich vor Stress die Haare, warf sich seinen Cardigan über und hetzte in den Flur, um in seine Schuhe zu schlüpfen.
»Mach ich alles. Und dir viel Erfolg beim Lernen.«, grinste ich und hielt ihm die Tür auf. Unaufhörlich musste ich an die letzte Nacht zurückdenken. Zwar gab es nicht viele Gedanken, die ich an eben jene verschwenden konnte, jedoch war der Fakt, dass ich endlich mal wieder durchgeschlafen und heute morgen fast schon ausgeschlafen war, desto erwähnenswerter. Ich wusste zwar nicht, was es war, aber er hatte irgendetwas an sich, dass mich unglaublich beruhigte. Kurz nachdem er mich am Vorabend in seine Arme gezogen hatte, schweifte ich auch schon in den Schlaf und ließ die Realität, die Schmerzen und Tränen hinter mir und tankte meinen Körper voll mit Kraft.
»Melde dich wirklich!«, flehte er schon fast, als er die Tür aufhielt und um die Ecke lugte. Dass er zu spät zu seiner Vorlesung und die letzte Bahn, die ihn noch pünktlich dorthin bringen würde, verpasste, schien ihm total abwegig und egal zu sein.
»Mache ich.«, lächelte ich ihn so ehrlich an wie schon lange nicht mehr an. Ich fühlte mich für diesen Moment geheilt und hatte schon Angst davor, die Tür zu schließen und allein zurückzubleiben.
»Aber wenn...«, er stoppte, als er den warnenden Blick meinerseits wahrnahm. »Okay, ich sollte gehen.«, gab er auf und war schon dabei sich umzudrehen und die erste Stufe der Treppe hinter sich zu bringen, als ich ihn mit seinem Namen zurück rief.
»Ja?«, fragend blickte er mich an, als ich die Tür aufstieß und mich durch einen kleinen Spalt ins Treppenhaus schob.
»Danke.«, grinste ich ihn an. »Du bist echte Medizin.«, leicht zog ich ihn an seiner Jacke zu mir heran und legte meine Arme um seinen Hals.
»Ich tu mein Bestes.«, flüsterte er nur leise in mein Ohr, während ich ihn an mich drückte. Ich spürte, wie sein Herz gegen meine Brust schlug und sein Griff sich von Sekunde zu Sekunde verstärkte. Leicht versuchte ich mich nach kurzer Zeit aus der Umarmung zu lösen, strich fast schon in Zeitlupe mit meiner Wange an seiner entlang, spürte die Bartstoppeln an meiner Haut und konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen.
»Du bist der beste.«, erwiderte ich nur und lehnte meinen Kopf wenige Zentimeter von seinem Kopf weg, um ihn ansehen zu können. Seine Augen strahlten mich schon förmlich an, seine Lippen waren zu einem Lächeln verzogen und sein ganzes Wesen, sein Ausdruck und Auftreten ließen mich handeln, wie ich nie im Leben gehandelt hätte, wenn der Schmerz nicht so unbewusst tief in meinem Inneren verdrängt und versteckt wurde.
Seine Lippen waren trocken, schmeckten trotzdem so sehr nach Liebe, dass ich dieses Gefühl noch mehr vermisste als zuvor. Zugleich waren sie so sanft, dass sie mich an meinen letzten Kuss vor fünf Jahren erinnerten. Es tat gut.
»Ich melde mich.«, hauchte ich und schubste ihn leicht zurück, um ihm lächelnd klarzumachen, dass er nun endlich die Bahn nehmen und zur Uni fahren sollte. Mit der leicht gehobenen Hand verabschiedete er sich und hetzte die Stufen hinunter.
Als ich die Tür hinter mir zugeschmissen hatte, ließ ich mich grinsend an ihr herunterrutschen. Ich wusste nicht, was in mich gefahren war. Ob es die Sehnsucht oder eben dieser Schmerz war, den Lenny mit jeder seiner Geste wegzuwischen wusste, war mir unklar. Er war mein bester Freund, derjenige, der mich immer wieder alleine auffing, wenn Emmi nicht in der Nähe sein konnte. Ich hatte ihm die letzten drei Jahre zu verdanken, hatte ihm zu verdanken, dass ich trotzdem so weit gekommen war. Und jetzt? Jetzt sollte er der Mann werden, der mich da vollends raus holen könnte, indem er die Rolle des Tims einnahm? Irgendetwas war in meinem Bauch, das sich so neu und gut anfühlte, doch ob es wirklich genau das Gefühl war, welches ich vor fünf Jahren so intensiv gespürt hatte, dass die Welt sich auf den Kopf hätte stellen können und ich nicht einen Funken davon wahrgenommen hätte, wusste ich nicht.
Dieses Mal hatte die Welt sich zwar auf den Kopf gestellt, doch der kleine Unterschied war, dass ich es trotzdem vollends wahrnahm und mitbekam.

»Ich mache mir Vorwürfe.«, hauchte Emmi gegen die leise Musik, die im Hintergrund lief, an. Mit einer Decke auf dem Sofa und in ihren Armen liegend, tranken wir ein Glas Sekt und genossen die Zeit, die wir nach etlichen Wochen endlich wieder zusammen hatten.
»Wieso Vorwürfe?«, fast schon alarmiert setzte ich mich auf und beobachtete sie.
»Weil ich dir damals unbedingt Mister Right vorstellen und dich mit ihm verkuppeln wollte.«, gestand sie und senkte ihren Kopf. Leicht lächelnd sah ich sie an.
»Das brauchst du doch aber nicht.«, beruhigte ich sie. »Kann doch keiner wissen, dass er sich als das größte Arschloch entpuppt.«
»Klar, kann das keiner wissen, aber vielleicht ahnen. Ich habe irgendwie das Gefühl, in gewisser Weise versagt zu haben.«, ich seufzte und setzte mich bequemer, in einem Schneidersitz, vor sie. Fast schon so, als ob ich mich auf ein Gespräch einstellen wollte, das über mehrere Stunden gehen sollte.
»Du hast nicht versagt. Nie. Keine Sekunde in den ganzen letzten fünf Jahren. Du warst immer da, bist so oft zu mir gekommen oder hast mich zu dir geholt, hast jede Sekunde versucht mich abzulenken, wusstest in den richtigen Momenten zu lachen, Witze zu machen oder mit mir zu weinen.«, versuchte ich sie mit meinen Worten zu überzeugen. Langsam hob sie ihren gesenkten Kopf und lächelte mich an. »Danke.«, quetschte ich noch hervor, ehe sie mich mit ihrem freien Arm zu sich zog und kurz in den Arm nahm.
»Ich muss dir noch was gestehen.«, fing sie an, als ich mich erneut gegen ihre Schulter gelehnt und an meinem Glas genippt hatte.
»Und was?«
»Er hat nach dir gefragt.«, prustend setzte ich mich auf, klopfte mir mit der flachen Hand auf die Brust und versuchte, die herunter geschluckte Flüssigkeit mit einem Husten aus der Luftröhre zu holen, um nicht vollends an dem sprudelnden Getränk zu ersticken.
»Er hat was?«, brachte ich mühsam hervor und stellte das Glas außer Reichweite – als hätte ich geahnt, dass es in den nächsten Minuten keine allzu gute Idee gewesen wäre, etwas zu trinken.
»Er hat Phil eine SMS geschrieben und sich erkundigt, wie es dir geht.«
»Das kann doch gar nicht sein, schließlich hat er gar nicht mehr gesehen, dass ich zusammengebrochen bin.«, mit zusammengekniffenen Augenbrauen und einem leicht schüttelndem Kopf sah ich meine beste Freundin an.
»Er ist zwar in entgegengesetzte Richtung gegangen, hat sich aber nochmal umgedreht und gesehen, wie Lenny zu dir gerannt ist.«
»Sieht ihm ähnlich, dass er danach gleich abgehauen ist.«, nuschelte ich mir in meinen nicht vorhandenen Bart.
»Er...er meinte zu Phil, dass er zur Probe musste. Er soll beim Bundesvision Songcontest auftreten.«, als würde Emmi sich in irgendeiner Art und Weise für ihn schämen und damit rechnen, dass ich sie für sein Verhalten verantwortlich machen würde, senkte sie ein weiteres Mal ihren Kopf und sah verstohlen auf ihre Finger.
»Abgehobener Musiker also? Der Erfolg steigt ihm nach so einem Scheiß schon zu Kopf – klasse Mann ist er!«, schlecht gelaunt stand ich auf und zog die Balkontür auf. »Jetzt weiß ich wenigstens wirklich, woran ich bin.«, mit viel zu groben Bewegungen zog ich mir eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie mir zwischen die Lippen. Zwar wollte ich mir die Angewohnheit schon längst abgewöhnt haben, doch solche Situationen wie diese, die sich gerade in den letzten fünf Jahren viel zu oft angehäuft hatten, ließen mich meinen Vorsatz über Bord werfen. Ohne die Zigarette wäre jeder noch so kleine emotionale Zusammenbruch in einem reinen Desaster geendet. Auch wie jetzt: Die Tränen standen mir in den Augen, die Wut staute sich auf und der Schrei, der sich in meinem Inneren verkrochen hatte, kämpfte mit mir um das Rauskommen. Ich wollte wie immer nicht die Leidige an den Tag legen, doch es gelang mir nicht – wie immer.
»Scheiße!«, schrie ich, drückte die Zigarette unbedacht in den Aschenbecher und schob meinen Stuhl mit einem lauten Knarren über den Boden des Balkons.
»Komm her.«, vernahm ich nur die Stimme von Emmi. Die Hände vor die Augen gepresst, spürte ich schon wenige Sekunden später, wie sich ihre schützenden, helfenden Arme um meinen Körper schlangen und sie mit mir zusammen auf den Boden sackte. Ich kauerte mich zusammen, ließ mich zur Seite fallen und weinte. Weinte stundenlang in ihrem Schoß, ohne Rücksicht darauf, dass es unser erster gemeinsamer Abend seit langem war und ohne Rücksicht darauf, dass ich es jedes Mal tat, wenn ich sie sah. Denn genau das machte unsere bedingungslose Freundschaft aus - sie war trotz alledem da, hielt mich und heilte mich nach jedem noch so großem Tief.

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