» Kapitel 11

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»Lia, bist du soweit?«, rief Emmi aus dem unteren Stockwerk des Hauses die Treppe hinauf. Ich zuckte zusammen und hielt in meinem Vorhaben, mir mein schwarzes Kleid erneut über den Kopf zu ziehen und es mit einem roten zu tauschen, inne. Die Haare, die Emmi mir zuvor mühevoll mit dem Glätteisen zu großen Locken gedreht hatte, waren schon wieder kurz davor ruiniert zu sein. Quälend lächelte ich meinem Spiegelbild entgegen, fuhr mir noch einmal sanft durch die Haare und zog das trägerlose Kleid am Saumen zurecht.
»Ja, ich komme.«, wohl oder übel musste ich mich mit meinem Outfit zufriedenstellen und griff noch nach meiner kleinen Taschen, die ich mir schnell unter den Arm klemmte, um mehr schlecht als recht mit meinen hohen Schuhen die Treppe hinunter zu stolpern. Unaufhörlich musste ich an das Jahr denken, an dem Emmi 18 geworden ist. Die Situation die sich mir heute bot, war mit der von vor vielen Jahren zum Verwechseln ähnlich: Wieder musste Emmi auf mich warten und rief mich durch das ganze Haus zu sich herunter, damit wir endlich den Weg antreten konnten. Wenn ich heute zurückdachte, wie viele Erinnerungen auf diesem Tag lasteten, zog sich zwar alles in mir zusammen, jedoch wäre ich nie auf die Idee gekommen, in Tränen auszubrechen – ob es daran lag, dass auf der Terrasse Phil, Lenny und Emmi auf mich warteten, oder ob es einfach dieser Alltag war, der mich davor bewahrte, blieb mir ein Rätsel. Mehr oder weniger froh war ich, dass trotzdem noch etwas mit mir anzufangen war – schließlich war heute der Junggesellinnenabschied meiner besten Freundin.
»Dass du immer so lange brauchst.«, grinste Lenny als er mir im Flur mit zwei Flaschen Bier entgegenkam. »Du siehst wunderschön aus.«, leicht drückte er mich von sich weg und begutachtete mich.
»Danke.«, nuschelte ich nur und ging nach einem flüchtigen Kuss weiter in Richtung Wohnzimmer, um ins Freie zu gelangen.
»Oh, Lia, endlich! Hier, trink erst mal was. So lange, wie du da oben rum geeiert bist, musst du doch schon längst ausgetrocknet sein!«, empfing mich meine beste Freundin voller Euphorie, drückte mir ein Glas Sekt in die Hand und donnert ihr eigenes Sekunden später so unsanft dagegen, dass ich das Gefühl hatte, mich gleich wieder umziehen zu müssen, da das klebrige Getränk mein komplettes Kleid bekleckst hätte.
Stirnrunzelnd sah ich sie an und nahm einen kleinen Schluck von dem sprudelnden Sekt und zündete mir eine Zigarette an. »Ist da etwa wer aufgeregt?«
»Quatsch, nein. Ich meine, wie kommst du denn darauf?«, abwinkend ging Emmi wie ein wilder Tiger im Käfig das helle Pflaster für wenige Schritte rauf und runter.
»Stimmt – wie komme ich da eigentlich nur drauf?«, ich sah zu Phil und Lenny, die nur lachend und kopfschüttelnd von ihrem Bier tranken. Grinsend betrachtete ich das ganze Spektakel und wunderte mich wieder einmal darüber, wie schnell die Zeit verging. Vor knapp zwei Monaten hatten Emmi und Phil uns die Botschaft erteilt, dass die beiden heiraten werden würden und jetzt? Jetzt sind die zwei Monate um, heute Abend würde der Junggesellinnenabschied stattfinden und schon übermorgen stehen die beiden vor dem Traualtar und geben sich das Ja-Wort. Ich bekam eine Gänsehaut, wenn ich nur daran dachte.
»Wann kommen die anderen denn?«, riss Lennys Stimme mich aus den Gedanken. Fragend blickte ich in die Runde und konnte den entschuldigenden Blick von meiner Freundin kaum übersehen.
»Tim wollte gleich eigentlich kommen und uns abholen, weil wir zusammen fahren wollten. Und die Mädels kommen danach auch irgendwann eingetrudelt.«, erklärte Phil. Dass dieser sich keine Gedanken darüber machte, wie ich die Neuigkeit, dass ich Tim wiedersehen würde, auffassen würde, war irgendwie klar. Es lag einfach in seiner Natur, dass er nicht sonderlich darauf achtete, weswegen ich mir nicht weiter Gedanken darüber machte. Viel schlimmer fand ich es, dass ich ihn sehen würde und sich das Wasser schon jetzt in meinen Handinnenflächen ansammelte. Es war schon etwas anderes, als ich damals erfuhr, ihn wiederzusehen – spätestens an der Hochzeit -, doch dass das Aufeinandertreffen jetzt anscheinend zwei Tage vorgezogen wurde, machte mich nervöser, als es sollte.
Schnell griff ich nach der Hand meines Freundes, als würde ich in gewisser Schutz, Geborgenheit und das Wissen, dass er da war, wenn ich es nicht verkraften würde, suchen. Doch ich wollte es verkraften. Ich konnte die ganzen letzten zwei Jahre damit umgehen, hatte Lenny und war glücklich mit ihm. Es durfte schon gar nichts mehr aus dem Takt gebracht werden, schließlich hatte ich mittlerweile einen Alltag, der mich nicht jede Sekunde runterzog. Ich war mir sicher, dass ich ihm mit einer kalten Schulter die Hand geben könnte.
»Dann bin ich ja mal auf den Star gespannt.«, nuschelte Lenny nur und übte gewissen Druck in der Hand aus, in welcher meine lag. Ausdruckslos sah ich ihn an und wartete, dass Phil oder Emmi ihn irgendwie beruhigten.
»Geh bitte ohne Vorurteile an die Sache ran. Blende den Fakt der letzten Jahre einfach bitte aus.«, schaltete Emmi sich nach ihrer Flut der Nervosität wieder ein und zwinkerte meinem Freund zu. Die Rettung im richtigen Moment.
»Wenn das nur so einfach wäre.«, als könnte ich aus seinem Nuscheln diesen Hass, die Wut und auch ein wenig Eifersucht heraushören, zog ich ihn zu mir, legte meine Hand auf seine Wange und drückte ihm einen sanften Kuss auf den Mund.
»Servus.«, da war es. Die Stimme, das Wort, der Mensch, der mir egal war - oder egal sein sollte. Unaufhörlich zuckte ich zusammen, löste mich von Lenny und wandte mich langsam um, um Tim erblicken zu können.
Er legte gerade seine Hände auf Emmis Rücken, drückte ihren Oberkörper an seinen und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Mit Phil schlug er ein, drückte auch ihn kurz an sich und streckte Lenny daraufhin seine Hand entgegen, um sich ihm vorzustellen. Dass dieses Aufeinandertreffen mehr als kühl ausfiel, konnte jeder hervor sehen, jedoch sah ich Lenny an, dass er sich mehr als zusammenriss.
»Hey, Lia.«, begrüßte Tim dann auch mich und ruckartig begriff ich, wie ich ihn angestarrt haben musste. Ich riss mich selbst aus meinen Gedanken zurück, konnte mich jedoch nur mit Mühe in der Realität halten. Wieder musterte ich ihn und hatte das Gefühl, dass nicht ein Tag vergangen war, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Immer noch hatte er dieses Babyface, wie Emmi es früher immer nannte, und noch immer wurden die weichen Konturen seines Gesichtes von den blonden Locken umrahmt. Eine Sonnenbrille versteckte die wohl durch Stress aufgrund der Karriere entstandenen Augenringe und seine Lippen schienen immer noch so weich wie damals.
Ich brachte kein Wort heraus, auch als Lenny mich mit seinem festen Druck in meiner Hand wieder voll und ganz zurückholte. Ich konnte nur nicken, an meinem Glas nippen und mir automatisch eine weitere Zigarette zwischen die Lippen stecken. Ich hatte das Gefühl, die wenigen Minuten, die die drei Jungs noch bei uns verbringen würden, nicht überstehen zu können.
»Ich muss noch was aus dem Auto holen.«, entschuldigte ich mich, drückte Lenny noch einen provokanten Kuss auf die Lippen, schielte kurz zu Tim, der nicht wirklich etwas von meiner Flucht mitbekam, und ging um das große Haus herum, um mich wenig später gegen die Beifahrertür zu lehnen und tief durchzuatmen.

»Do you know where your heart is? Do you think you can find it? Or did you trade it for something, better just to have it? Do you know where your love is? Do you think that you lost it? You felt so strong, but nothing's turned out how you want it


*OneRepublic - Say (All I need)

In dein HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt