» Kapitel 12

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Es fühlte sich an, als hätte ich eine Ewigkeit gegen das Auto gelehnt gestanden. Die Zigarette zwischen meinen Fingern war längst herunter gebrannt und die Glut dockte schon mit dem Filter zusammen. Ich wusste nicht, was ich dachte, was ich in den nächsten Minuten vorhatte und was nicht. Sollte ich zurückgehen, ohne, dass ich wirklich etwas aus dem Auto geholt hatte? Sollte ich sagen, ich habe meinen Schlüssel vergessen und hätte somit noch nichts mitbringen können, was sich im Inneren meines Autos befand? Jede Idee schien mir so unglaubwürdig, dass nicht mal ich an ihre Überzeugungskraft glaubte – wie also sollten es dann die anderen? Ich wusste lediglich, dass ich unmöglich wieder zurückgehen konnte. Ich konnte mich nicht dorthin setzen und so tun, als wäre nie etwas passiert. Manch einer würde behaupten, dass es mittlerweile sieben Jahre her war und jeder von uns seinen Weg gegangen war, doch trotzdem sträubte sich etwas gegen mich. Als sollte eine nächste Begegnung etwas anderes sein als das, was hier gerade stattfand. Die nächste Begegnung sollte kein Bier trinken sein, sondern eine Situation, die uns viel mehr und vor allem etwas anderes bot. Ich wollte ihn erst an der Hochzeit wiedersehen – so, wie ich mich von Anfang an drauf eingestellt hatte.
»Lia?«, der Zigarettenstummel zwischen Zeige- und Mittelfinger entglitt mir vor Schreck und landete letztendlich neben dem Vorderrad meines Autos.
»Ja?«, ruckartig hob ich meinen Kopf.
»Schön dich zu sehen, hey.«, eine Freundin von Emmi, neben deren Haus sie ihre ganze Kindheit gewohnt hatte, lächelte mich an und drückte mich für einen kurzen Moment an sich.
»Klara, hey.«, versuchte ich meine Freude so gut es ging auszudrücken. »Wie geht es dir?«
»Gut und dir? Du hast dich total verändert. Du siehst gut aus!«, bewarf sie mich mit Komplimenten, weswegen ich schon fast nervös und unruhig wurde.
»Danke, mir geht's auch gut.«, grinste ich und baute mir im Hinterkopf den Plan aus, mit ihr nach hinten zu gehen, um es so aussehen zu lassen, als hätte ich die Sachen aus meinem Auto aufgrund der Begegnung mit Klara völlig vergessen.
»Super, dann lass uns doch mal nach hinten gehen.«, schlug sie vor. Glücklich darüber, dass sie nicht nachfragte, weshalb ich hier alleine herumstand und mit einem negativen Grummeln in meinem Bauch, weil ich Tim wieder über den Weg laufen würden, folgte ich ihr. Nervös knibbelte ich an meinen Fingernägeln.
»Klärchen!«, hörte ich Emmi schon rufen und hatte das Gefühl, als habe sie sich in den letzten Minuten so viel Alkohol eingeflößt, dass sie nicht mehr viel brauchen würde, um ins Bett zu fallen.
Mit schnellen Schritten ging ich an den beiden Mädels vorbei und setzte mich auf meinen alten Platz neben Lenny. Dass Tims Blick auf mir lag, spürte ich sofort. Ich hätte ihn am liebsten weggewischt, ihn vertrieben oder eine Wand zwischen uns aufgebaut. Ich wollte nicht, dass er mich ansah, wollte nicht, dass er mir die Luft zum Atmen nahm. Ungeheure Panik löste sich in meinem Inneren aus, dass ich dachte, jeden Moment aufspringen zu müssen, um ins Haus zu rennen. Doch wieder umfasst Lennys Hand meine dünnen Finger. Als würde er es spüren, riechen, dass ich mich unwohl fühlte, handelte er sofort.
»Wollen wir los, Jungs? Nicht, dass wir unter den Mädels gleich völlig untergehen.«, lachte Phil und klatschte einmal laut in die Hände. Sofort erhob sich Lenny und beugte sich zu mir herunter.
»Schreib mir, wenn irgendetwas ist, okay?«, hauchte er zwischen zwei Küssen und hielt meinen Kopf in seiner Hand.
»Ja, mache ich.«, nickte ich und schielte für einen Moment über seine Schulter und blickte in Tims Augen. Ein Blitz durchschoss meinen Körper. »Denk dran, was Emmi vorhin gesagt hat. Es ist schließlich Phils Abend.«
»Mache ich, Beauty.«, flüsterte er und drückte mir mehrmals einzelne Küsse auf meine Lippen, ehe er sich umdrehte und mit Phil vorging.
»Bis übermorgen.«, warf Tim nur in die Runde, ließ seinen Blick kurz auf mir ruhen und drehte sich dann ebenfalls um, um hinter den anderen beiden Jungs herzugehen. Und dann waren sie, dann war er weg.

Noch lange heftete mein Blick in der Luft, wo Tim zuvor gestanden hatte und noch immer ging mir seine Stimme durch den Kopf. Er brachte mich völlig durcheinander, sodass ich nicht mehr wusste, ob die Entscheidung mit ihm abzuschließen richtig war oder nicht. Er jedenfalls schien wohl froh darüber zu sein, dass ich einen neuen Mann gefunden hatte – schließlich sah er nicht eine Sekunde traurig aus.
»Wo gehen die denn jetzt hin? Nicht, dass wir denen später noch über den Weg laufen.«, grinste Klara und nahm einen Schluck aus ihrem Sektglas.
»Die wollen sich erst mit den anderen treffen, dann in der Stadt vortrinken und danach nach Hannover oder Braunschweig fahren.«, klärte Emmi uns auf und verdrehte ihre Augen.
»Die werden wahrscheinlich mit den anderen in der Kneipe hängen bleiben.«, nuschelte ich nur und musste mir mein Grinsen, welches aufgrund der besseren Laune, die sich innerhalb von wenigen Sekunden in meinem Körper ausgebreitet hatte, verkneifen.
»So wird es wohl sein. Also würde ich sagen, dass wir den kürzesten Weg nehmen und nach Wolfsburg fahren. Dann kommen wir auch wieder gut nach Hause und können uns notfalls noch ein Taxi besorgen. Wenn die anderen noch kommen wird die Gruppe auch größer und es letztendlich nicht allzu teuer für jeden.«, schlug Emmi vor und ließ sich mit einem lauten Seufzen auf einem der Gartenstühle nieder.
»Ich hol uns noch eine Flasche Sekt.«, schaltete ich mich ein, als Emmi und Klara ihre Gläser geleert hatten und drückte mich mit beiden Händen aus meinem Stuhl, um den Weg in die Küche anzutreten.
Der Kühlschrank war voll mit Flaschen des sprudeligen Getränks und auch Schnapsflaschen nahmen den Platz für die restlichen Lebensmittel weg. In gebückter Haltung stand ich vor dem Seitenfach und versuchte mit Mühe und Not eine der Flaschen, die Emmi womöglich mit all ihrer Kraft in das Fach verfrachtet hatte, herauszunehmen, als die Küchentür zugeknallt wurde.
»Man, ey.«, hauchte ich atemlos und drehte mich zu Emmi um, die mit verschränkten Armen gegen die Wand gelehnt stand und mich musterte.
»Wie geht's dir?«
»Wie soll es mir gehen? Ich will feiern, einen Sekt trinken, und bekomme diese beschissene Flasche nur mit Verzögerung aus dem Fach hier raus.«, motzte ich, während ich ein letztes Mal kräftig an dem Flaschenhals zog. »Geht doch.«, nuschelte ich und erlöste die Flasche von dem Korken.
»Gibt es einen bestimmten Grund, weswegen du urplötzlich was aus dem Auto holen musstest, aber ohne irgendeine Sache zurückgekommen bist? Und hat das Verlangen nach Alkohol eventuell etwas mit Tim zu tun?«, stocherte meine beste Freundin nach. Ich wusste, dass ich vor dieser Frage nicht sicher sein würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich auf frischer Tat ertappen würde. Doch in diesem Moment kam mir die ganze Geschichte fast schon so vor, als wollte sie mich vor ihrer Hochzeit mit Tim konfrontieren, um mir irgendetwas klarzumachen.
»Nein, hat es nicht. Und wenn du dich unbedingt mit mir darüber unterhalten willst, dann lass es uns verdammt nochmal auf morgen verlegen. Heute ist deinJunggesellinnenabschied!«, ermahnte ich meine beste Freundin, ehe ich mit Schwung die Flasche von der Arbeitsplatte fischte und an ihr vorbei aus der Küche hetzte.
Ich wollte in diesem Moment nicht näher auf das Thema eingehen. Ich wollte keine schlechte Laune bekommen. Ich wollte doch einfach nur diese schönen Stunden mit meiner Freundin verbringen – ohne an ihn denken zu müssen oder mit ihm konfrontiert zu werden. Ich wollte doch einfach nur, dass er endlich aus meinem Leben verschwand.

»Ich will in dein Herz und wenn das nicht geht, will ich dich nie wieder sehen.«


*Tim Bendzko - In dein Herz


In dein HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt