» Kapitel 10

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»Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren.«

Die Worte des französischen Schriftstellers André Gide gingen mir in letzter Zeit unendlich viel durch den Kopf. Obgleich ich diesen Satz, dieses Zitat, auf das Leben in meinem kleinen Dorf, in dem ich bis zu meinem Abitur gewohnt hatte, bezog, oder aber auf das Kapitel Tim – in beiden Fällen würde es wie auf die Faust aufs Auge passen. Doch gerade auf Tim bezogen sprach es mir aus der Seele.
Den Winter hatten wir seit den Tagen, an denen Lenny und ich uns näher gekommen waren, schon zweimal hinter uns gelassen und auch der Frühling kehrte uns den Rücken, sodass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis der Sommer mit seinen warmen Sonnenstrahlen gegen unsere Fensterläden klopfte und darum bat, unsere Knochen erwärmen zu dürfen. Der Winter hatte uns in diesen zwei Jahren zwar wieder mit seiner vollen Kraft heimgesucht, jedoch war mein Herz, mein ganzer Körper erwärmt von Liebe, die ich um mich herum spüren durfte.
Lenny gab mir alles, was ich brauchte, schenkte mir seine Aufmerksamkeit und die Liebe, die mich jeden neuen Tag aufrecht erhielt. Er machte mir Geschenke, las mir jeden Wunsch von den Lippen ab, um ihn mir Stunden später schon erfüllen zu können.
Die Gedanken an Tim wurden derweil von Tag zu Tag weniger. Ob ich ihn verdrängte oder schon gar keine Chance mehr dazu hatte, an ihn zu denken, da Lenny mich mit seiner Liebe fast schon umzingelte und nicht mehr von sich wegließ, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass mir das Ganze gut tat.
Vor knapp einem Jahr gewann Tim den Bundesvision Songcontest mit seinem Lied »Wenn Worte meine Sprache wären« und veröffentlichte schon bald die erste Single und das dazugehörige Album. Der Gewinnersong und sein Song »Nur noch kurz die Welt retten« stürmten die Charts und waren tagtäglich stundenlang in den verschiedensten Radiosendern zu hören – es verging kein Tag, an dem ich nicht seine Stimme hörte. Und trotzdem ging sie mir nicht mehr so nahe wie vor zwei Jahren. Tim war nicht mehr mein Alltag, er war nicht mehr diese Last an meinem Bein, die ich jeden Tag mit mir herumschleppen musste, obwohl ich es nicht wollte. Ich konnte wieder lachen, fröhlich sein und mein Leben in vollen Zügen genießen.
Ich hatte das Gefühl, dass ich das Kapitel vollends abgeschlossen hatte und dass das neue Kapitel mit Lenny gerade in der Mitte, beim Höhepunkt, angekommen war. Glück umspielte jeden Tag aufs Neue meine Seele und mein Herz, dass ich den Namen Tim mit einem Schulterzucken wahrnahm und nicht in Tränen ausbrach. Zwischenzeitlich dachte ich, dass ich immun gegen diesen Namen war und doch nur der richtige Zeitpunkt kommen musste, um all die Mauern, die ich um mein Herz aufgebaut und in die ich Lenny schon nahezu eingesperrt hatte, niederzureißen. Doch trotzdem verschlug ich den Gedanken, der mich oftmals viel zu negativ stimmte, immer wieder aufs Neue und beschloss, Tim als alte Küste aus den Augen zu verlieren und Lenny als neuen Erdteil in mein Herz zu lassen. Ich wollte es – manchmal vielleicht schon viel zu zwanghaft.

»Hey, an was denkst du?«, riss Lenny mich mit einem Kuss auf meine Schläfe aus meinen Gedanken. Kurz schreckte ich hoch und schenkte ihm ein Lächeln.
»Ach, daran, was in den letzten zwei Jahren eigentlich alles passiert ist.«, wank ich ab und stand auf, um mir ein Wasser aus der Küche zu holen und somit von dem Thema, welches ich in seiner Gegenwart ungern anschnitt, abzulenken. Nicht, dass ich mich nie mit ihm über Vergangenes unterhalten hatte, aber in gewisser Weise war es mir unangenehm. Ich wollte ihn nicht noch mehr damit belasten und ihm endlich das zurückgeben, was er mir die ganze Zeit gegeben hatte.
»Ach so. Apropos – wann kommen Emmi und Phil eigentlich?«, gab Lenny sich mit meiner Antwort zufrieden und widmete sich seinem Handy. Seufzend betrachtete ich ihn dabei und stützte mich mit beiden Armen an der Küchenzeile ab. »Ich weiß es nicht. Eigentlich wollten sie schon längst hier sein, aber womöglich ist die Avus wegen der Baustelle wieder völlig verstopft.«
»Komisch, eine Nachricht haben die beiden auch nicht hinterlassen.«, runzelte mein Freund seine Stirn und stand auf, um auf mich zuzukommen. Sanft legte er seine Hände um meine Taille und bettete seinen Kopf in meine Halsbeuge, während er kleine Küsse auf meine nackte Haut drückte. Doch dennoch schweiften meine Gedanken sofort zu Emmi und Phil. Ich wusste nicht, wieso die beiden herkamen, da es mitten in der Woche war und beide eigentlich arbeiten mussten, doch es schien etwas zu geben, das so wichtig war, dass Lenny und ich die ersten waren, die davon erfahren sollten. Ich war gespannt und wenn ich ehrlich bin auch ein wenig nervös, weswegen ich mich kaum auf Lennys Liebkosungen konzentrieren konnte.
»Ich...Lenny, lass das bitte kurz.«, murmelte ich und befreit mich von ihm. »Die beiden kom-«, meine Ausrede, dass die beiden wohl gleich kommen würden, wurde von der Türklingel unterbrochen und somit zu einer Tatsache gemacht. »Ich geh aufmachen.«
Mit schnellen Schritten und der Vorfreude im Bauch, die beiden nach langer Zeit endlich mal wiederzusehen, trottete ich durch die Wohnung und stürzte mich nach dem zweiten Klingeln schon fast auf die Türklinke, um sie herunterzudrücken und die Tür aufzuziehen.
»Schönen guten Taaaag!«, kicherte Emmi und fiel mir Sekunden später auch schon in die Arme.
»Schön, dich wiederzusehen.«, lachte ich auf und verstärkte für einen kurzen Moment die Umarmung und drückte sie noch fester an mich als zuvor. »Gab es Stau oder wieso die Verspätung?«
»Ja, die Avus war voll bis obenhin. Und wenn du einmal drinsteckst, kommst du so schnell nicht raus.«, seufzte Phil und nahm mich in den Arm.
»Oh ja, wie sie leibt und lebt.«, grinste ich und ging voraus ins Wohnzimmer, wo Lenny schon startbereit für die Begrüßung stand. Als ich Emmi dabei beobachtete, wie sie mit Lenny umging, war ich froh, dass sie ihn in den zwei letzten Jahren mit anfänglichen Schwierigkeiten doch noch als meinen festen und nicht mehr besten Freund akzeptiert hat. Sie war die einzige, die der Beziehung von ihm und mir skeptisch gegenüberstand und immer wieder das Thema im negativen Sinne anschnitt.
»Erde an Lia...«, lachend wedelte Lenny mit seinen Händen vor meinen Augen herum und legte liebevoll seinen Arm um meine Taille.
»Hä? Ich mein...was?«, stotterte ich und strich mir gedankenverloren meinen Pony aus dem Gesicht, ehe ich wieder vollends zurück in die Realität schweifte.
»Die beiden wollen sich ein bisschen frisch machen und dann wollen wir uns was zum Essen bestellen.«
»Und dann kommt die Neuigkeit der Neuigkeiten?«, freute ich mich schon und klatschte in meine Hände. Verwundert und lachend zugleich sahen mich drei Augenpaare an.
»Ja, die kommt dann auch.«, hob Emmi den Zeigefinger und zog Phil leicht hinter sich her aus dem Wohnzimmer.
»Beeilt euch!«

»Also, wir hören?!«, grinsend pickte Lenny in seinem chinesischem Essen herum und schielte zu Phil und Emmi, die uns beiden gegenüber saßen und sich verschwörerisch angrinsten.
»Willst du es den beiden Neugierigen sagen oder soll ich?«, Emmi legte ihr Besteck zur Seite und stützte ihr Kinn auf ihrer Hand ab. Stirnrunzelnd und total wackelig auf dem Stuhl sitzend, da sich die Aufregung, Neugierde und Ungeduld in mir breitmachte, beobachtete ich das ganze Spektakel und war froh, als die beiden Verliebten ihr Schweigen brachen. Es schien mir fast schon so, als hätten sie gestern erst zueinander gefunden und wären die frisch Verliebten. Ob ich Lenny auch so ansah, wenn ich mit ihm sprach? Ob ich genau die gleichen Funken versprühte, wenn er in meiner Nähe war? Ob wir genauso miteinander harmonierten, sodass uns jeder noch so fremde Mensch nach wenigen Sekunden abkaufen würden, dass wir unsterblich ineinander verliebt waren? Ob unsere Liebe mit der Zeit auch ins Unermessliche gestiegen war?
»...na ja, und dann hat er mir einen Antrag gemacht.«, schwärmte Emmi und fuchtelte wie wild mit ihren Händen in der Luft herum.
»Wir sind verlobt und werden uns noch diesen Sommer das Ja-Wort geben.«, grinsend und voller Glück zog Phil seine Freundin, Verlobte und baldige Ehefrau an sich heran und hauchte ihr einen liebevollen Kuss auf die Lippen.
»Wow, ich bin platt.«, wachte ich aus meiner Starre und meinen Gedanken auf und legte meine Hände auf jeweils eine der beiden. »Ich freue mich total für euch. Ihr...ach, Gott.«, vor Rührung standen mir schon nahezu die Tränen in den Augen, weswegen ich von den beiden abließ und in die offene Küche lief, um mir ein Stück Küchenrolle zu nehmen und die kleinen, salzigen Tropfen wegzuwischen. Ob es das Glück war, welches mich in dem Moment so sehr eingenommen hatte oder ob es einfache Erinnerungen an Momente waren, in denen ich eventuell genau das hätte haben können, konnte ich nicht zuordnen. Ich gab mich einfach damit zufrieden, dass ich mich unglaublich für meine beste Freundin freute. Und das war auch nicht gelogen.
»Komm her.«, lächelte ich, als sie mir in die Küche gefolgt war und zog sie in meine Arme. »Ich wusste, dass du dein Glück finden wirst.«
»Dir ist aber klar, dass du meine Trauzeugin sein wirst, ja?«, grinste sie und hielt mich einige Zentimeter an meinen Schultern von sich weg.
»Gerne.«, grinste ich nur und zog sie ein weiteres Mal kurz an mich. Sie wusste ganz genau, dass mir diese Geste unglaublich viel bedeuten würde und wir hatten schon in unseren jüngeren Jahren beschlossen, dass wir die Rolle beim jeweils Anderen einnehmen werden.
»Du hast dein Glück doch auch gefunden. Wer weiß – vielleicht fängst du ja den Brautstrauß und die nächste Hochzeit wird hier in Berlin gefeiert.«, kicherte Emmi und machte sich an den Schränken zu schaffen, um sich ein Glas herauszuholen. Sofort brannte sich ihr Satz in mein Gedächtnis ein und Gedanken, die ich so lange glücklicherweise vermieden hatte, brachen urplötzlich über mich ein. Tim.
»Du, sag mal, wer ist eigentlich Trauzeuge bei Phil?«, brachte ich mühsam hervor und steckte die Hälfte meiner eigenen Frage in die Schublade der rhetorischen Fragen. Ich wusste es, ohne, dass ich nur einen Moment drüber nachgedacht hätte.
»Ich...ich konnte ihn nicht davon abhalten. Tim.«, kurz stoppte sie. »Sie sind beste Freunde, schon immer und die beiden haben trotz den Umständen immer zusammengehalten. Und außerdem bist du doch über ihn hinweg. Wenn du ihn wiedersiehst wird es dann ja nicht so schlimm sein. Du bist doch glücklich mit Lenny.«, zwitscherte sie schon fast und die funkelnden Augen verrieten mir, dass sie längst nicht so bei der Sache war, wie ich. Noch immer schien sie in ihrem Kopf bei dem Bild hängengeblieben zu sein, wie sie mit Phil vor dem Traualtar stand. »Komm, wir gehen wieder zu den beiden.«
Völlig fassungslos stand ich an der Küchenzeile gelehnt und sah meiner besten Freundin hinterher. Sie hatte Recht: Ich war glücklich mit Lenny. Da würde mich die Begegnung mit Tim nach über zwei Jahren, in denen ich die Konfrontation mit seinem Namen mit Bravour gemeistert hatte, auch nicht so sehr von den Puschen hauen, wie damals, bevor Lenny mich vollends rettete.
Doch irgendetwas stimmte in meinem Inneren nicht. Ob es die Angst, Verzweiflung oder Aufregung war – es brachte mich völlig aus der Spur. Wie in einem Film zogen Bilder an mir vorbei, die Tim zeigten: Wie er lächelte, mir über die Wange strich, mich küsste oder traurig ansah.

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