𝟐. 𝐉𝐞𝐧𝐬𝐞𝐢𝐭𝐬 𝐝𝐞𝐫 𝐑𝐞𝐚𝐥𝐢𝐭ä𝐭

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Die Tage, die folgten, fühlten sich wie eine schattenhafte Wiederholung ihrer Nächte an. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit schien zu verschwimmen. Sophia begann, das Motorradgeräusch zu hören, selbst wenn sie wach war. Manchmal, während sie durch die Straßen ging, fühlte sie plötzlich diesen Blick im Nacken, das leise Dröhnen eines Motors, das scheinbar aus dem Nichts kam. Jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, war da niemand. Doch das Gefühl blieb.

Am Montagmorgen schlurfte Sophia müde durch die Schule. Ihre Augen waren geschwollen und rot, als hätte sie die Nacht durchgeweint, was sie jedoch nur vor dem Schatten ihrer Träume beschützt hatte. Sie hatte vor einer Woche aufgehört, Bücher zu lesen, und auch die Gespräche mit ihren Freundinnen schienen ihr zunehmend fremd. Die Leichtigkeit der Worte und die Freude an den Geschichten, die sie zuvor mit Leidenschaft teilte, waren verschwunden.

Im Pausenraum war der Lärm der fröhlichen Stimmen ihrer Freundinnen kaum mehr als ein entferntes Echo in ihrem Kopf. „Sophia! Hey, was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!" rief Anna, die mit langen, blonden Zöpfen und einem strahlenden Lächeln durch den Raum tanzte. Sophia zwang sich zu lächeln, aber es fühlte sich an, als wäre das Lächeln aus Pappe, starr und ohne Leben.

„Alles in Ordnung", log sie und setzte sich an den Tisch, wo ihre Freundinnen bereits in eine Diskussion über ihre neuesten Bücher vertieft waren. „Ich habe nur nicht gut geschlafen."

„Wieder diese Albträume?", fragte Julia besorgt, ihre Augen verengten sich. „Du musst wirklich mal mit jemandem darüber reden. Es ist nicht normal, so oft zu träumen."

Sophia zuckte mit den Schultern und starrte auf das Tablett mit ihrem Mittagessen, das sie kaum wahrnahm. Sie fühlte sich nicht nur müde, sondern auch innerlich zerrissen. „Es ist nichts. Es ist nur... es fühlt sich real an."

„Real?" Lisa, die stets die Kritische war, lehnte sich vor. „Was meinst du damit? Du musst doch wissen, dass Träume nicht die Realität sind!"

„Es sind nicht nur Träume", murmelte Sophia, während ihre Gedanken zurück zu dem geheimnisvollen Biker drifteten, dessen glühende Augen sie in der Dunkelheit der Nacht verfolgten. „Ich fühle mich, als würde ich beobachtet. Wie... wie wenn jemand hinter mir steht, sogar wenn ich allein bin."

Ein unbehagliches Schweigen fiel über den Tisch. Ihre Freundinnen tauschten besorgte Blicke aus, und Sophia spürte die Mischung aus Verständnis und Unglaube, die in der Luft hing. Es war, als hätte sie einen Teil von sich offenbart, den niemand verstehen konnte.

„Lass uns einfach ablenken!", schlug Anna vor und hielt ihr Buch hoch. „Was haltet ihr von einer neuen Buchrunde? Wir könnten uns ein paar spannende Geschichten suchen und darüber reden!"

„Klingt gut!", stimmte Julia sofort zu und grinste. „Ich habe gerade ein tolles Buch über eine mysteriöse Heldin gelesen, die gegen die Schatten kämpft. Es könnte dir gefallen, Sophia."

„Ja, vielleicht...", murmelte Sophia, aber der Gedanke an die Geschichten und die Gespenster, die sie enthielten, erfüllte sie mit einer unbestimmten Angst. Stattdessen stellte sie fest, dass ihre Freundinnen weiterhin von ihren Abenteuern in fernen Welten sprachen. Die Worte strömten wie Wasser an einem reißenden Fluss vorbei, ohne sie zu erreichen. Sie fühlte sich wie ein Geist unter Lebenden, während ihre Gedanken von dem Schatten, der sie heimsuchte, gefangen gehalten wurden.

Die Pause verging in einem verschwommenen Nebel aus Gesprächen und Lachen, und Sophia bemerkte nicht einmal, dass der Unterricht wieder begann, bis die Lehrer sie mit strengen Blicken aufforderten, Platz zu nehmen.

Die Stunden schleppten sich dahin. Sophia war wie betäubt, und die Mathematikformeln und Geschichtsdaten verwandelten sich in ein wummendes Geräusch in ihrem Kopf. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Stattdessen starrte sie aus dem Fenster und beobachtete den Regen, der unaufhörlich auf die Straße prasselte, und fühlte sich wieder zurückversetzt in die schützende Dunkelheit ihres Zimmers.

Jeder Blick auf die Uhr ließ ihre Gedanken tiefer in die Nacht abtauchen, in die Dunkelheit, in der der Biker mit seinen glühenden Augen lauerte. Was wollte er von ihr? Warum verfolgte er sie? Der Drang, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen, wuchs in ihr, doch gleichzeitig machte ihm die unheimliche Präsenz Angst.

Als der Schultag endlich zu Ende war und sie das Gebäude verließ, spürte sie, wie die kühle Luft um sie herum ihre Haut streifte. Doch anstelle von Erleichterung spürte sie ein unangenehmes Kribbeln. Die Straße lag vor ihr, regennass und glänzend, aber der Gedanke an den heimlichen Schatten, der sie beobachtete, ließ sie frösteln.

Während sie nach Hause ging, war jeder Schritt ein Kampf gegen die innere Unruhe. Der Klang eines Motorrads hallte in ihrem Kopf, und sie wollte sich umdrehen, um zu sehen, ob er hinter ihr war. Doch sie zwang sich, weiterzugehen, den Kopf hoch, die Schultern zurück, als wollte sie die Dunkelheit hinter sich lassen.

Doch in ihrem Herzen wusste sie, dass die Dunkelheit sie nicht verlassen würde. Sie würde auf sie warten, bereit, sie in die Schatten zu ziehen, wann immer sie ihre Augen schloss.

𝔇𝔞𝔯𝔨 𝔯𝔬𝔪𝔞𝔫𝔠 || 𝙏𝙝𝙚 𝙣𝙞𝙜𝙝𝙩 𝘿𝙧𝙞𝙫𝙚𝙧 || Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt