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„Ah Rhy, da bist du ja!" Irina Ivanova, eine unserer Showreiterinnen kommt gerade auf meinen Klappstuhl zu. Es ist bereits stockfinster, aber das Lagerfeuer lodert immer noch und wirft seine Flammen in den Himmel. „Hm?" Ich hob den Blick und das flackernde Licht des Feuers spiegelte sich in meinen Augen. Wie eine flüchtige Flamme, die kaum noch Wärme ausstrahlt. Seltsam, wenn man bedenkt, dass ich selbst schon lange nicht mehr leuchte. Mit zwei Tassen heißer Schokolade und zwei Decken ließ sie sich in den Stuhl neben mir nieder.

„Wie lange bist du schon hier draußen? Dir muss ja scheißkalt sein." Ihr russischer Akzent war weich aber deutlich. Ich zuckte nur mit den Schultern, die kühle Luft störte mich kaum - im Gegenteil es war fast angenehm. „Mir geht's gut.", entgegnete ich und zwang mir ein schwaches Lächeln ab. Es erreichte meine Grübchen nicht. „Trotzdem, du frierst." fürsorglich legte sie mir eine der Decken über die Schultern.
Vor dem Unfall waren Irina und ich beinahe unzertrennlich gewesen. Doch danach war es still um uns geworden. Sie hat immer öfter bei mir vorbeigeschaut und mir etwas zu trinken oder Kuchen mitgebracht, aber ich habe es meist nicht angerührt.

„Dein Vater hat nach dir gefragt, du warst nicht beim essen." ihre stechend blauen Augen wurden ernst und ein kurzer Schatten huschte über ihr hübsches Gesicht. Ich schob ihr eine Schüssel mit Gulaschresten darin, vor die Füße. „Ich habe mir vorhin noch etwas bei Lorenza geholt." Lorenza ist unsere Köchin. Eine brünette Frau in ihren sechziger Jahren. In letzter Zeit haben sich immer mehr weiße Strähnchen in ihr Haar gemischt und ihr Gesicht war von feinen Falten durchzogen. Mit ihrem offenen Ohr und den aufmunternden Worten, die sie grundsätzlich immer irgendwie fand, war sie zur Anlaufstelle geworden wenn es einem mal beschissen ging.

Ich dachte an den Moment, als ich mich heimlich am Tisch der Essensausgabe zu der Köchin geschlichen habe, um noch eine kleine Portion Gulasch zu ergattern. Sie hat mich auf ihre typische Lorenza-Art angelächelt, warm und zart, aber wissend. Sie übergab mir schließlich ein dampfendes Schüsselchen. Ich mochte es nicht mehr mit den anderen zu essen. Immer wenn sie mich sehen huscht so etwas wie Reue über ihr Gesicht. Das hasse ich, sie können doch nichts dafür.

Irinas Züge wurden weicher und ich sah zum Feuer. Sie tat es mir gleich. Eine Weile lang war es still. Nur das knistern der Flammen war zu hören. Ich vergrub meine Hände in den Ärmeln meines abgenutzten dunkelblauen Hoodies und driftete ab. Das passierte mir zurzeit oft.

Irina spannte sich an und ich bemerkte es aus dem Augenwinkel. „Du weißt, dass es nicht deine Schuld war, oder?" Mit diesen Worten hatte sie den Elefanten im Raum angesprochen und mein Herz begann schmerzhaft zu stechen. Ihre Augen glitzerten verdächtig als sie mich ansah und ich konnte es nicht ertragen Irina weinen zu sehen - nicht wegen mir, nicht wegen irgendetwas anderem. Ich hasste es zu weinen und noch mehr, wenn es jemand anderes tat.

Ich schluckte heftig und stand hastiger auf als nötig. „Ich glaube, ich gehe jetzt ins Bett. Ist schon spät. Danke für den Kakao." Ohne auf ihre Antwort zu warten, machte ich mich im Eilschritt auf den Weg zu meinem Wohnwagen. Ich musste dem Druck in meiner Brust entkommen, es war unerträglich.

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Am Wohnwagen angekommen, holte ich den Schlüssel aus der Tasche meiner Jogginghose und versuchte, ihn ins Schlüsselloch zu stecken. Meine Hände zitterten so stark, dass ich das Loch beim ersten Versuch verfehlte. Tief durchatmend schloss ich die Augen um mich zu sammeln. Hinter mir schlenderten Elowen und Leandro, unser spanisches Tanz-Duo, gemütlich über die plattgedrückte Wiese des großen Stellplatzes.
Mit einem weiteren Versuch gelang es mir schließlich, den kleinen goldenen Schlüssel ins Schloss zu stecken. Das vertraute Geräusch des Einrastens erklang und ich trat mit einem tiefen Seufzer ein. Die Tür hinter mir zog ich fest zu, um dem Trubel zumindest für den restlichen Abend zu entfliehen.

Erschöpft knipste ich das Licht an und ließ meinen Blick langsam durch den Raum gleiten.
Der Wohnwangen war groß und geräumig. In der linken Ecke, ganz hinten, stand mein Bett und in der Wand dahinter war der Kleiderschrank integriert. In dem sich alle meine Alltagsklamotten befanden. Rechts am Fenster, in der schmalen Lücke zwischen Badezimmer und Schrankwand, stand mein Schreibtisch.
Das Badezimmer war ein kompakter Raum mit einer kleinen Dusche, einer Toilette und einem Waschbecken, das auf einem kleinen Regal montiert war. Über dem Waschbecken hing ein Wandschrank mit einem Spiegel und LED-Lämpchen. Neben der Dusche hingen Handtücher und mein Duschschwamm ordentlich aufgereiht.
Rechts neben der Eingangstür befand sich eine kleine Garderobe, die aus drei Kleiderhaken und einer Kommode mit einem kleinen Fenster dahinter bestand. Ich drehte mich nach links, wo eine minimalistische Küchenzeile mit zwei einzelnen Herdplatten untergebracht war, die zusätzlich mit einer Mikrowelle, einem Wasserkocher und einem Minikühlschrank ausgestattet war. Ich griff nach einen Wasserglas,  füllte es auf und kippte den Inhalt gierig herunter. Über der Zeile reihte sich ein weiterer langer Schrank, indem mein Geschirr verstaut war.
Zwischen der Küche und dem Bett war etwas mehr Raum, der durch ein kleines Wandstück abgetrennt wurde. An der Schlafzimmer Seite der Wand war ein heller, hölzerner Tisch angebracht. An den Stirnseiten jeweils ein Stuhl. Auf einen von den beiden ließ ich mich nieder. Der flauschige, helle Teppichläufer unter meinen Füßen füllte den gesamten Schlafbereich. Sämtliche Kunstpflanzen, schlichte Deko und Lichterketten machten den Abschluss. Es war ein Traum und das beste war es gehörte mir allein.

Mein Handy vibrierte. Ich stellte das Wasserglas auf dem Tisch ab und griff nach dem Ding. Lauter Nachrichten waren auf dem Sperrbildschirm zu sehen.


UNTERGANG DES STERNENDUOS
Artikel vom 10. September

Am 1. Juli dieses Jahres ereignete sich im Royal Circus Velaris, der zu diesem Zeitpunk in Prag, (Tschechische Republik) gastierte, ein tragischer Unfall, der das Leben des jungen Zirkusartisten Jase Eldridge forderte.
Der Vorfall ereignete sich während des mit Spannung erwarteten Finales des „Sternenduos", einer der beliebtesten Attraktionen des Zirkus.
Das Duo bestehend aus der talentierten Rhea Velaris und ihrem Partner Jase Eldridge, war bekannt für ihre atemberaubenden Darbietungen am Trapez, das eigens für sie konstruiert wurde. Geschmückt mit langen, schimmernden Akrobatiktüchern, bot es die perfekte Kulisse für ihre waghalsigen Sprünge und akrobatischen Meisterleistungen. An diesem schicksalhaften Abend jedoch lief alles schief. Rhea Velaris Tochter des Zirkusinhabers und Direktors, setzte zu früh zum Sprung ab und stürzte gemeinsam mit ihrem Partner in die Tiefe des Zeltes.
Die Zuschauermenge, die zuvor voller Begeisterung und Vorfreude war, erstarrte im Schock, als sich der dramatische Vorfall entfaltete. Notärzte und Sanitäter, die schnell zur Hilfe anrückten, konnten leider nur noch den Tod des jungen Artisten feststellen.
Dieser tragische Vorfall hat nicht nur die Familie und Freunde des verstorbenen Artisten erschüttert, sondern auch die gesamte Zirkusgemeinschaft. Rhea Velaris befindet sich in einem Zustand tiefer Trauer, während sie versucht, die schmerzliche Realität zu verarbeiten, dass sie ihren Partner verloren hat. Der Royal Circus Velaris, der für seine spektakulären Vorstellungen bekannt ist, steht vor der Herausforderung, mit dieser tragischen Situation umzugehen und gleichzeitig die Sicherheit seiner Künstler zu gewährleisten.

Die Zuschauer und die gesamte Zirkusgemeinschaft senden ihre tiefsten Beileidsbekundungen an die Hinterbliebenen. „Wir werden Jase niemals vergessen. Er war nicht nur ein außergewöhnlicher Künstler, sondern auch ein lieber Freund.", sagte ein enger Vertrauter des Duos.
In dieser schweren Zeit wünschen wir der Zirkusfamilie viel Kraft und Trost.

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Ich wusste nicht genau, warum ich mir den ganzen Text durchlas. Wahrscheinlich war es einfach unvermeidlich, als Person des öffentlichen Lebens von seinen Problemen wegzulaufen. Aber Jase war kein Problem er war eine Erinnerung - die schönste, die ich bisher hatte. Vor so einer Erinnerung lief man nicht weg. Ich wollte nicht vor dem fliehen, was noch vor zwei Monaten mein Leben war. Jas und ich hatten so viele Träume geteilt, so viele Momente voller Lachen und Liebe für das was wir taten.
Ich werde es für ihn tun, dachte ich. Für Jase.
Es war an der Zeit, das zu ehren, was wir gemeinsam aufgebaut hatten.

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