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„Rhea, kommst du heute noch da raus?" Das Hämmern an der Tür weckte mich abrupt. Mein Herz schlug schneller, und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was gerade passiert war. War ich eingeschlafen? Offensichtlich. Die Stimme meines Vaters drang gedämpft durch das Holz der Tür, genervt, wie so oft in letzter Zeit.

Ich rieb mir verschlafen über das Gesicht und strich mir die zerzausten Haare aus der Stirn, während ich zur Tür eilte. Der Spiegel in der Ecke des Raumes zeigte mir, was ich ohnehin spürte – einen Abdruck auf meiner Wange von meiner Hand, die ich offenbar als Kissen genutzt hatte. Ich öffnete die Tür und trat ihm entgegen, noch nicht ganz im Hier und Jetzt.

„Ja? Was-" Ich stoppte, als ich den Mann hinter meinem Vater erblickte. Xilian. Natürlich war er es. Sein Anblick traf mich wie ein Schlag, und sofort wünschte ich, ich hätte mich wenigstens zurechtgemacht. Doch das war jetzt egal. In dem Moment traf mich die Erinnerung wie ein kalter Windstoß. Das Training.

Ich schluckte hart und spürte, wie sich meine innere Abwehrmechanismen aufbauten, Schicht für Schicht, wie ein Schutzwall gegen das, was kommen würde. Es wardie distanzierte Stimme meines Vaters, die mich am meisten traf.

„Heute werdet ihr zum ersten Mal zusammen trainieren." Seine Worte klangen so förmlich, als spräche er mit einem Geschäftspartner und nicht mit seiner eigenen Tochter. Kein Hauch von Wärme oder Zuneigung schwang in seiner Stimme mit. Es war lange her, dass ich diese Dinge von ihm erwartet hatte. Vielleicht hatte ich schon längst aufgehört, ihn wirklich als meinen Vater zu sehen. Jedenfalls als den Vater, den ich in letzter Zeit gebraucht hätte.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich versuchte, eine Antwort zu finden. Doch da war nichts. Nur Stille.

Ich schloss die Augen und atmete tief durch.
Die Übelkeit stieg in mir auf, eine Welle, die nicht nachließ, je mehr ich versuchte, ruhig zu atmen. Es war nicht nur die Angst vor dem, was kommen würde – es war die pure Panik, die sich in mir festgesetzt hatte, als wüsste mein Körper bereits, dass das hier ein Fehler war. Aber ich hatte keine Wahl. So sehr ich es hasste, so sehr ich mich dagegen sträubte, der Gedanke, dass der gesamte Zirkus von meinem Auftritt abhing, lastete schwer auf mir. Die Verantwortung schnürte mir die Kehle zu.

Und dann war da auch noch er. Xilian. Ein Fremder, und doch schien er derjenige zu sein, auf den jetzt alles ankam. Ich vertraute ihm nicht. Warum auch? Er war neu und sein selbstsicheres Auftreten machte es nicht besser. Allein seine Anwesenheit schien mich noch mehr aus der Balance zu bringen, als ich es ohnehin schon war.

Mein Vater war längst gegangen, ohne ein weiteres Wort, wie immer in den letzten Jahren. Das war es, was ihn ausmachte. Effizienz. Keine Zeit für Emotionen, keine Zeit für mich. „Ich muss wieder." hatte er gesagt, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und zurück in seinen Büro-Wagen marschierte. So, als ob ich nur eine weitere Aufgabe auf seiner endlosen Liste wäre.

„Na, Murmeltier?" Sein spöttischer Ton ließ meinen Magen endgültig rebellieren. Ich konnte den Hohn in seiner Stimme hören, und es machte mich wütend. Ich presste die Lippen zusammen und rollte genervt die Augen, bevor ich ihm die Tür vor der Nase zuknallte.

Das Gesicht in den Händen vergraben, blieb ich einen Moment in der Stille des Raumes stehen. Mein Atem ging stoßweise, und ich kämpfte gegen die Tränen. Schon wieder Tränen. Schwach. Ich war schwach. Doch ich wusste, dass es keinen Ausweg gab. Es gab keinen Raum für Schwäche. Ich musste das hier durchziehen, egal wie ich mich fühlte. Der Zirkus brauchte mich, und das war das Einzige, was zählte. Ob ich wollte oder nicht, ob ich konnte oder nicht, ich musste aufs Trapez. Jetzt. Mit jemandem, den ich kaum kannte und dem ich nicht einmal im Geringsten vertraute.

Mir wurde schlecht. Wirklich schlecht. Ich taumelte ins Badezimmer und kniete mich vor die Toilette. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr, krampfte sich zusammen, als würde er die Angst aus mir herauszwingen wollen. Ich spürte, wie die Galle in meiner Kehle brannte und ich das Gefühl hatte, dass alles aus mir herausbrechen wollte – die Angst, der Druck, der Stress. Es hörte einfach nicht auf.

Stöhnend drückte ich schließlich die Spülung und ließ mich erschöpft gegen die kalte Wand sinken. Die Fliesen waren rau unter meinen Händen, ein kleiner Anker in der Flut meiner Emotionen. Ich schloss die Augen, während mein Atem allmählich ruhiger wurde. Mein ganzer Körper fühlte sich leer und schwer zugleich an. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich bald da draußen stehen musste. Am Trapez.

Ich musste funktionieren. Nicht für mich, sondern für alle anderen. Und das war der schwerste Teil.

Schließlich stabd ich auf und griff nach meiner Zahnbürste. Flüchtig putzte ich mir die Zähne, verzweifelt darum bemüht, den widerlichen Geschmack in meinem Mund loszuwerden.
Es fühlte sich an, als wollte ich die ganze Situation mit einem schnellen Wischen ausradieren, aber natürlich war es nicht so einfach. Als ich den Mund ausspülte, hing der bittere Nachgeschmack noch immer in der Luft – nicht nur von dem Erbrochenen, sondern auch von der Angst, die mich innerlich aufzufressen drohte.

Meine Haare waren ein Durcheinander, also band ich sie hastig zu einem neuen Zopf zusammen. Die Bewegung fühlte sich mechanisch an, so wie alles in diesem Moment. Schnell riss ich mir den Kapuzenpullover vom Leib und tauschte ihn gegen ein einfaches Spaghetti-Top. Weniger Stoff, weniger Last, dachte ich flüchtig, aber die schwarze Leggings ließ ich an. Sie war das einzige, was sich irgendwie vertraut anfühlte, ein Stück Normalität inmitten dieses Chaos.

Ich lief mechanisch aus dem Badezimmer und hob den Kopf, als ich vor der Kommode im Eingangsbereich stand. Ich starrte in den Spiegel. Große grüne Augen sahen mir entgegen, leer und ausdruckslos, als gehörten sie jemand anderem. Als wäre da nichts in mir, obwohl ich innerlich tobte. Ein Sturm wütete tief in mir, aber an der Oberfläche war nichts davon zu sehen. Nur diese erschreckende Leere. Ich fühlte mich wie eine Hülle, die durch die Bewegungen des Alltags geleitet wurde, während alles in mir schrie, weinte und rebellierte.
Was war aus mir geworden?

Meine Hände zitterten leicht, als ich schließlich nach meiner Sporttasche griff und sie über meine Schulter warf. Die Tasche die ich auch immer bei Jase und meinem Training dabei hatte.
Es war nur eine Tasche, aber sie fühlte sich plötzlich schwerer an als je zuvor. Ich packte meine Schlüssel und eine Wasserflasche dazu, mehr aus Gewohnheit als aus wirklichem Bedürfnis. Ein tiefer Atemzug, der alles irgendwie wieder in Bewegung setzen sollte, aber es fühlte sich hohl an. Nichts davon half.

Schließlich öffnete ich die Tür. Die kühle Luft schlug mir ins Gesicht, doch der Aufprall war milder als erwartet. Ich hatte mit einer weiteren Konfrontation gerechnet. Mit Xilian, der mit seinem spöttischen Lächeln auf mich wartete, bereit, einen weiteren bissigen Kommentar zu machen. Doch er war verschwunden.

Der Weg vor mir war klar, und doch schien er sich endlos zu dehnen. Jeder Schritt fühlte sich schwer an, als würde der Boden unter mir nachgeben. Ich wusste, dass ich mich dem Unvermeidlichen stellen musste, aber die Leere ließ mich fühlen, als würde ich alleine gegen die ganze Welt kämpfen.
Und vielleicht war das auch so.

All Eyes on MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt