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Von einem plötzlichen Anflug von Mut gepackt, griff ich nach meiner Cola und machte mich auf den Weg zu einem der Tische, der fast leer war – nur Irina saß dort. Sie war völlig in ihr Smartphone vertieft, ihre Finger flogen regelrecht über das Display, als gäbe es dort etwas unglaublich Wichtiges, das sofort erledigt werden musste. Kurz blieb ich stehen und überlegte, ob es überhaupt eine gute Idee war, sie anzusprechen. Doch bevor ich mich wieder umdrehen konnte, war ich schon zu nah dran, um noch zurückzuweichen. Also setzte ich mich hin. Einfach so.

Irina sah auf. Ihre Augen weiteten sich, als sie mich bemerkte, als hätte sie mich nicht erwartet. „Oh... hey!" sagte sie, ein wenig überrascht. Ihr Lächeln war echt, wenn auch leicht verunsichert. Ich erwiderte es vorsichtig und setzte mich ihr gegenüber.

„Hey." antwortete ich schließlich und spürte, wie meine Stimme ein wenig zu leise klang. Irina legte ihr Smartphone zur Seite, und eine peinliche Stille breitete sich über den Tisch aus. Es war diese Art von Stille, bei der man fast das Ticken der Uhr hören konnte, obwohl es keine gab. Ich spürte, wie meine Nervosität wuchs.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, brach Irina das Schweigen. „Bist du heute Abend wieder in der Maske?" fragte sie und nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Ihr Ton war leicht, fast beiläufig, aber sie sah mich dabei direkt an. Es war beruhigend, dass sie das Thema so normal und unkompliziert hielt, und ich konnte aufatmen.

„Ja, Kelsey ist froh um jede helfende Hand, die sie kriegen kann." antwortete ich und merkte, wie meine Schultern sich entspannten. Endlich etwas Vertrautes. Über die Maske und die Arbeit dort konnte ich reden, ohne mir groß Gedanken machen zu müssen.

„Das kann ich mir vorstellen," sagte sie und kicherte. „Schmink mal eine ganze Horde von Zirkusartisten. Nein danke! Das ist wirklich eine Aufgabe für jemanden mit viel Geduld oder einen, der verrückt genug ist, es freiwillig zu tun." Sie grinste breit.

Ich erwiderte ihr Lächeln mit einem schüchternen Schmunzeln, aber dieses Mal fühlte es sich echt an. Nicht aufgesetzt, nicht verkrampft, sondern ehrlich.

Das leise Klingeln der alten Küchenuhr auf dem Tresen durchschnitt die gesellige Atmosphäre des Raums, wie ein Signal, das alle Artisten an den Tischen gleichzeitig in Bewegung setzte. Die Bierbänke scharrten über den Boden, als sich die meisten erhoben und zur Essensausgabe schlenderten. Auch Irina und ich standen auf, fügten uns in die Reihe ein und ließen den vertrauten Trubel um uns wirken. Ich warf einen Blick an der Schlange vorbei, um zu sehen, was heute auf dem Menü stand: Reis mit einer Sauce und dampfendem Gemüse. Erst in diesem Moment fiel mir auf, wie hungrig ich eigentlich war. Der Duft war verlockend.

Direkt vor uns in der Schlange stand Jacko, unser Feuerartist und Showreiter, bekannt dafür, nie eine Gelegenheit auszulassen, eine kleine Show abzuziehen – selbst in so banalen Situationen wie dem Abendessen. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht diskutierte er gerade ausgelassen mit Lorenza. Er wollte seine Portion, wie immer, ohne das Gemüse. Er mochte es einfach nicht. Es war eine Tatsache, die wir alle kannten und mit der wir uns irgendwann abgefunden hatten.

„Kein Gemüse, bitte", sagte er jetzt mit gespieltem Ernst und zog eine Grimasse, die an ein trotziges Kind erinnerte. Lorenza, die längst wusste, dass jeder Versuch, ihn umzustimmen, vergeblich war, schüttelte resigniert den Kopf. „Jacko, eines Tages wirst du es bereuen, kein Gemüse gegessen zu haben", sagte sie, aber ihre Stimme klang weniger belehrend als amüsiert. Schließlich schob sie ihm seinen Teller ohne ein einziges Stück Grün hinüber.

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Das war typisch Jacko. Er hatte diesen unerschütterlichen Willen, wenn es um bestimmte Dinge ging – vor allem um seine Abneigung gegen alles, was grün oder irgendwie gesund war. Es war fast zu einem Running Gag innerhalb unserer Gruppe geworden. Jeder von uns hatte mindestens einmal versucht, ihn zu überreden, seine Meinung zu ändern, aber niemand hatte Erfolg gehabt.

Ich erinnerte mich an einen besonders lustigen Vorfall. Irina hatte eines Abends mit der Küche abgesprochen, kleine Karottenstückchen in Jackos Bolognese zu schmuggeln. Er hatte es tatsächlich nicht sofort bemerkt und ganz unbeschwert gegessen, während Irina und ich uns gegenüber saßen, die Hände vor dem Mund, um nicht laut loszuprusten. Es war einer dieser Momente, in denen man verzweifelt versucht, ernst zu bleiben, aber das Lachen schon tief im Bauch brodelt und droht, jeden Moment auszubrechen. Schließlich konnten wir uns nicht mehr beherrschen. Wir hatten Tränen gelacht – ehrlich gesagt, wir hatten geweint vor Lachen.

Jackos Gesicht, als er den Betrug bemerkte, war unbezahlbar. Er sah erst verwirrt, dann gespielt entrüstet aus, doch schließlich hatte er es mit einem schiefen Lächeln abgetan. Jase hatte an diesem Abend ebenfalls dabei gesessen. Er hatte fast sein Wasser wieder ausgespuckt, so sehr hatte er sich über Jackos Entdeckung amüsiert. Und dann, als Jacko resigniert den Rest seines Tellers inspizierte, hatte Jase mit einem breiten Grinsen seinen eigenen Teller angeboten. Brüderlich und großzügig wie er war, tauschte er mit Jacko und rettete ihn so vor weiteren Karottenstücken.

Der Gedanke an Jase ließ einen Stich in meinem Herzen zurück. Es fühlte sich immer noch zu falsch an, dass er fehlte.

Ich drehte mich leicht zu Irina um, in der Erwartung, sie mit demselben Lächeln auf den Lippen vorzufinden, das ich selbst hatte. Doch stattdessen bemerkte ich, wie ihre Aufmerksamkeit auf Jacko gerichtet war. Ihre eisblauen Augen hingen förmlich an seinem Gesicht, als gäbe es in diesem Moment nichts Wichtigeres für sie. Sie beobachtete ihn mit einer Art stiller Bewunderung, die ich nur selten bei ihr gesehen hatte.

Ich konnte es ihr nicht verübeln. Jacko war zweifellos ein attraktiver Typ. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm lässig in die Stirn, und seine sonnengebräunte Haut sprach von den vielen Stunden, die er draußen verbrachte. Das kleine Grübchen an seiner linken Wange, das immer dann erschien, wenn er lächelte, gab ihm etwas junges, fast unschuldiges, und seine rehbraunen Augen funkelten oft verschmitzt, als hielte er bereits den nächsten Scherz bereit. Er war nicht nur charmant, sondern auch liebenswert.

Für mich war unsere Freundschaft immer rein platonisch gewesen. Jacko war jemand, auf den ich mich verlassen konnte, ein Kumpel, aber es ging nie über diese Grenze hinaus, und das sollte es auch nicht. Doch ich hatte schon seit einiger Zeit bemerkt, dass Irina anders auf ihn blickte. Diese kleinen, heimlichen Blicke, die sie ihm zuwarf, wenn sie dachte, dass niemand es sah – sie verrieten mehr, als sie vermutlich ahnte.

Aber das war nicht mein Thema. Nicht jetzt. Irina und ich arbeiteten gerade daran, unsere Freundschaft wieder zu finden, uns wieder näherzukommen.

Stattdessen wandte ich mich wieder an Lorenza, die noch immer am Tresen stand und routiniert die Teller befüllte. Jacko hatte inzwischen seine Portion entgegengenommen, mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

„Mach den Teller ruhig mit Jackos Portion Gemüse voll." sagte ich zu Lorenza und schob ihr meinen Teller hin. Ein mattes, aber ehrliches Lächeln huschte über mein Gesicht.

Lorenza, die die Situation schnell erfasste, hob eine Augenbraue und verkniff sich ein Lachen. „Gerne." murmelte sie und häufte eine ordentliche Portion Gemüse zu meinem Reis auf den Teller. Ein kleiner Triumph über Jackos Sturheit – selbst wenn er davon nichts mitbekam.

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