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Ich war einfach gegangen. Ohne ein weiteres Wort, ohne eine Erklärung. Ich konnte es nicht mehr hören. Ein Ersatz? Das war es, was sie mir weismachen wollten, aber jeder Versuch, es anders zu verpacken, war nichts weiter als hohles Gerede. Nichts konnte die Wahrheit verschleiern, nichts die Wunden heilen.

Draußen angekommen, stieß ich beinahe mit einem Postboten zusammen. Er sah mich überrascht an, vielleicht sogar ein wenig besorgt. Aber ich war nicht in der Lage, ihm Beachtung zu schenken. Nicht heute. Nicht in diesem Moment, wo mein Kopf zu platzen drohte und meine Gedanken wie ein Sturm durch mich hindurchfegten. Später würde ich mir Vorwürfe machen. Der arme Kerl konnte ja nichts dafür, und normalerweise hätte ich ihm wenigstens ein freundliches Nicken geschenkt. Doch heute war alles anders. Meine Nerven lagen blank, mein Herz war schwer, und die Erinnerungen lasteten wie ein bleiernes Gewicht auf mir.

Es war nicht nur das, was gerade passiert war. Schon seit Ewigkeiten trug ich diese Last mit mir herum – die Tatsache, dass Jases Wohnwagen noch immer hier stand, unverändert, als wäre er nur für einen Moment weggegangen und käme jeden Augenblick zurück. Das kleine Ding, vollgestopft mit Dingen, die uns gehörten, unseren gemeinsamen Erinnerungen. Die Vorstellung, es zu betreten, war unerträglich. So oft hatte ich es mir vorgenommen, hatte mir selbst gesagt, dass es Zeit war, die Vergangenheit loszulassen und einen Schlussstrich zu ziehen. Aber jedes Mal, wenn ich kurz davor war, die Hand an die Tür zu legen, zog ich zurück. Der Schmerz, den ich fürchtete, war zu überwältigend.

Jases Wohnwagen war nicht nur ein Ort. Es war unser Rückzugsort gewesen, unser eigenes kleines Universum, weit weg von allem. Dort drin lebten noch all die Erinnerungen an ihn, an uns. Es war der einzige Ort, an dem ich wirklich das Gefühl hatte, bei ihm zu sein. Und vielleicht war es genau das, was es so unmöglich machte, diesen Ort zu betreten. Denn ich wusste, dass es nie wieder dasselbe sein würde. Es würde nur leer sein, eine Hülle, ohne Leben. Ohne ihn.

Die Erinnerungen drinnen waren nicht wie die im Zelt oder anderswo. Sie waren lebendig, fühlbar, fast greifbar. Ich war mir sicher, dass, wenn ich einmal durch diese Tür ginge, all das, was ich versucht hatte zu verdrängen, über mir zusammenbrechen würde. Ein Tsunami der Gefühle, der mich einfach umwerfen würde. Ich würde es nicht überstehen.

Und so blieb ich fern davon, in einer Art von selbst auferlegter Isolation, unfähig, mich der Vergangenheit zu stellen, unfähig, voranzukommen. Der Wohnwagen blieb stehen, wie eine Mahnung, die ich nicht ignorieren konnte, egal, wie sehr ich es versuchte.

Stattdessen entschied ich mich, das kleine Zelt zu betreten, das als improvisierter Küchen- und Essbereich diente. Es war nicht viel, aber es reichte aus, um uns alle zu versorgen, ein Ort, an dem wir zusammenkamen, wenn die Sonne langsam am Horizont versank. Drinnen herrschte eine ruhige, fast gemütliche Atmosphäre. Einige der Artisten saßen an den Tischen, in kleine Grüppchen verteilt, und unterhielten sich leise. Ein leises Lachen drang an mein Ohr. Für einen Moment fragte ich mich, warum sie nicht bei den Vorbereitungen für die Abendshow waren, aber dann fiel mein Blick auf die Wanduhr. Fast 18 Uhr. Es war Zeit für die kurze Pause, die wir uns vor den abendlichen Auftritten gönnten. Die Minuten zwischen den hektischen Proben und dem Moment, wenn die Lichter angingen und der Zirkus zum Leben erwachte.

Wie in Trance ging ich zum Tresen, wo Lorenza, stand und sich um die Verpflegung kümmerte. Trotz allem schaffte ich es, ein Lächeln aufzusetzen, als ich sie erblickte. Sie strahlte wie immer eine Wärme aus, die inmitten dieses unsteten Lebens wie ein sicherer Hafen wirkte. "Hey Süße, was darf's denn sein?" fragte sie mit dieser unverkennbaren, sanften Stimme, die immer ein wenig Trost spendete, egal wie chaotisch der Tag gewesen war.

Mein Lächeln wurde etwas echter, nicht mehr ganz so gezwungen. Allein ihre Präsenz machte die Dinge für einen Moment erträglicher. "Eine Cola bitte. Ich verdurste!" sagte ich und spürte, wie mein Körper nach etwas Frischem, Kaltem verlangte, nach einem kleinen Stück Normalität.

Lorenza war das Herzstück dieses Zeltes. Sie war die, die dafür sorgte, dass alles lief, dass jeder satt wurde und sich für einen Moment zu Hause fühlte, egal wie weit wir tatsächlich davon entfernt waren. Sie nickte und griff nach einer kalten Dose aus dem großen Kühlschrank hinter ihr. Die Getränke dort waren immer eiskalt, fast schon zu kalt, wenn man ehrlich war, aber genau das war jetzt perfekt. Sie reichte mir die Cola mit einem Lächeln. Das tolle an Lorenza war, dass sie immer wusste, wenn einer von uns durchhing, ohne dass wir ein Wort darüber verlieren mussten. Es war eine ihrer besonderen Gaben.

Die kühlen Wassertropfen auf der Außenseite der Dose glitzerten im schummrigen Licht des Zeltes und tropften langsam auf den hölzernen Tresen. Ich spürte, wie mir das Wasser im Mund zusammenlief. Vorsichtig nahm ich einen Schluck. Das kalte Getränk prickelte auf meiner Zunge und ließ für einen kurzen Moment die Anspannung von mir abfallen. Ein tiefer Atemzug, und die Welt fühlte sich für diesen einen Moment ein klein wenig weniger bedrückend an.

Ich blickte noch einmal in die Runde, sah die vertrauten Gesichter und hörte das leise Murmeln der Gespräche. Es war diese Art von Gemeinschaft, die uns zusammenhielt, selbst in den dunkelsten Zeiten. Hier, im Herzen des Zirkus, fand man immer einen Ort, an dem man durchatmen konnte.

Nach und nach trafen immer mehr bekannte Gesichter ein. Die Artisten, die Helfer, die Techniker. Sie alle schienen sich nach einem langen Tag hier zu sammeln, und normalerweise wäre das der Moment gewesen, in dem ich mich langsam zurückgezogen hätte. Seit dem Unfall war es mir schwergefallen, unter so vielen Menschen zu sein. Ich konnte die Blicke, die sie mir zuwarfen, einfach nicht mehr ertragen. Sie meinten es wahrscheinlich gut, doch die Mischung aus Mitleid und Schuld, die in ihren Augen lag, brachte mich jedes Mal zum Schwanken. Es fühlte sich an, als würde ich nicht nur den Verlust, sondern auch das unausgesprochene Bedauern all dieser Menschen mit mir herumtragen.

Doch heute war es anders. Ich konnte es nicht genau erklären, aber etwas in mir sehnte sich nach der alten Routine, nach den vertrauten Abläufen, die ich so lange vermisst hatte. Die Aufregung, die langsam in den Körper kroch, wenn der Abend nahte und man wusste, dass gleich die Show beginnen würde. Das Adrenalin, das in den Adern prickelte, wenn man bei Lorenza etwas zu essen holte, während man sich gedanklich schon auf den bevorstehenden Auftritt vorbereitete. Früher waren diese Momente etwas Selbstverständliches gewesen, etwas, das zu meinem Alltag gehörte. Doch in der letzten Zeit, nachdem alles zerbrochen war, fühlte es sich so fern an, wie aus einem anderen Leben.

Heute aber spürte ich es wieder – das leise Kribbeln unter der Haut, das einen daran erinnerte, warum man all das tat. Warum man all die Strapazen, die Entbehrungen, die ständige Bewegung ertrug. Es war nicht nur die Arbeit, nicht nur die Show an sich. Es war das, was wir gemeinsam schufen. Die Momente hinter der Bühne, wenn wir uns gegenseitig Glück wünschten, das letzte Lachen, bevor der Vorhang aufging. Das Wissen, dass wir etwas Magisches erschufen, selbst wenn es für die Zuschauer nur eine flüchtige Illusion war.

Ich sah mich um, sah die Menschen, die langsam das Zelt füllten. Und zum ersten Mal seit langer Zeit empfand ich keine Fluchtinstinkte. Es war keine Last, hier zu sein. Im Gegenteil, ich spürte eine unerwartete Wärme. Ich vermisste es – mehr, als ich es mir je eingestanden hätte. All die kleinen Rituale, die Gespräche, das Lachen, das uns durch die schweren Tage getragen hatte. Es war dieser Zusammenhalt, der uns immer wieder vorangetrieben hatte, der uns an jeden neuen Ort führte und uns durch jede Vorstellung begleitete. Und heute, an diesem Abend, wollte ich daran teilhaben.

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