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Heute sollte der Tag sein, an dem ich mich endlich wieder ans Trapez wagen würde - zumindest hatte ich das gehofft. Seit dem Unfall hatte ich keine Vorstellung mehr gegeben. Nicht in der Akrobatik, nicht auf irgendeine andere Weise. Stattdessen hatte ich mich mit Kelsey und die Requisiten und die Maske gekümmert. Doch den Schritt in die Manege hatte ich bisher nicht gewagt. Jetzt stand ich genau hier, in der Mitte des Zirkelrings und starrte mit weit aufgerissenen Augen zur Stange hoch. Diese war immer noch mit den Tücher von unserer Showeinlage geschmückt. Ich spürte, wie mein Hals trocken wurde, und meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich wollte es doch, aber die Angst hielt mich fest.

Ich senkte schnell meinen Blick und ließ ihn über die leeren Zuschauerränge schweifen. Die dunkelroten Polstersitze wirkten im Halbdunkel beinahe samtig. Der Eingang zur Arena war mit kunstvollen, goldenen Verzierungen geschmückt, die in ihrer Eleganz die Zeit überdauert hatten.
Die Glühbirnen, die in langen Lichterketten über mir gespannt waren, blieben ausgeschaltet.
Trotzdem konnte ich es genau vor mir sehen: Das Zelt, erleuchtet von diesen kleinen, warmen Lichtern, die das ganze Rund in ein sanftes, fast magisches Licht tauchten. In jenen Momenten, wenn die Manege in dieses schummrige Glühen getaucht wurde, sah alles perfekt aus. Wunderschön. Fast wie ein Traum.

„Rhea?" Die Vertraute Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte zusammen und drehte mich hastig um. Das Herz plötzlich schwerer in meiner Brust. Mein Vater stand am Artisten Eingang zur Manege, nur wenige Meter entfernt. Im schwachen Licht, das durch das Zelt fiel, wirkten seine dunkelbraunen Augen beinahe schwarz, als ob sie all die unausgesprochenen Sorgen und Worte in sich trügen, die wir beide seit dem Unfall mit uns herumtrugen.

Oliver Velaris war ein eher kleiner, rundlicher Mann, mit kurz geschnittenem, schwarzem Haar und einem leichten Schatten von Bartstoppeln. Unter seinem rechten Auge zeichnete sich ein Muttermal ab – ein winziges, unscheinbares Detail, das mir als Kind immer wieder ins Auge gefallen war. Damals hatte ich oft dort hingestarrt, wenn er mich auf den Arm nahm, und das winzige Mal mit meinem Finger berührt, als wäre es ein besonderes Zeichen, das nur ich kannte.

Jetzt jedoch, viele Jahre später, wirkte dieses kleine Detail wie eine Erinnerung, welche mir nach dem Unfall aus den Händen geglitten war. Es erinnerte mich an all die Zeiten, als er mich ermutigt hatte, als er mich stolz aus der Manege hinausgetragen hatte, nachdem ich meine ersten Sprünge am Trapez geschafft hatte. Damals war es einfach gewesen, die Schwerkraft zu überwinden, die Angst zu ignorieren.
Jetzt schien das alles unendlich weit weg.

„Was machst du denn hier?" Seine Stimme klang ehrlich verwirrt, fast überrascht. Es musste mittlerweile ein seltenes Bild sein: Ich, in der Manege. Früher war das mein Reich gewesen. Ich war hier, wann immer ich konnte, fast jeden Tag, zu jeder Uhrzeit. Doch jetzt fühlte es sich fremd an, als wäre ich eine Besucherin in meinem eigenen Leben.

„Nichts. Wollte gerade gehen," antwortete ich schnell, meine Stimme schärfer als beabsichtigt. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in meiner Brust aus, und ich machte einen Schritt nach vorn. Bereit, einfach zu verschwinden.
Doch bevor ich den Rand der Manege erreichen konnte, spürte ich die sanfte, aber feste Hand meines Vaters an meinem Handgelenk. Er hielt mich auf, und sein Griff war gleichzeitig vertraut und schwer auf meinen Schultern.

„Warte," sagte er ruhig, fast bittend. „Ich muss etwas mit dir besprechen."
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich wollte nicht reden. Nicht hier, nicht jetzt. Langsam drehte ich mich zu ihm um, meine Augen suchten seine. „Ich bin ganz Ohr," murmelte ich, obwohl alles in mir schrie, wegzulaufen. Als er meinen Arm losließ, ließ ich ihn kraftlos an meiner Seite heruntersinken. Meine Finger fingen unbewusst an, an der Nagelhaut zu knibbeln.

Mein Vater räusperte sich, ein unbehagliches Geräusch in der stillen Manege. „Na gut, ich mach's kurz," begann er und zog seinen Blick nicht von mir ab. „Du wirst einen neuen Partner bekommen."
In diesem Moment schien die Zeit stillzustehen. Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann mit doppelter Geschwindigkeit weiterzurasen. Alles um mich herum verschwamm. Ein neuer Partner? Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. „Nein." stieß ich heiser hervor. Es war kaum mehr als ein Krächzen, meine Stimme zitterte und überschlug sich fast. Panik stieg in mir auf, wie eine Welle, die drohte, mich zu überrollen.

Mein Vater zog eine Augenbraue hoch, eine stille Aufforderung, mich zu erklären. „Nein?" wiederholte er ruhig, aber ich konnte den leichten Hauch von Verwunderung in seiner Stimme nicht überhören.
„Nein," wiederholte ich, diesmal etwas fester, auch wenn ich spürte, wie mir die Kontrolle entglitt. „Ich... ich kann das nicht. Du kannst nicht einfach..." Ich schluckte schwer, versuchte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.
„Du kannst Jase nicht einfach ersetzen. Das geht nicht!" Ich wurde laut.

Mein Vater sah mich lange an, sein Blick weich, aber bestimmt. „Rhea." begann er leise, „es geht nicht darum, jemanden zu ersetzen. Das wird niemand. Aber... du musst weitermachen. Der Zirkus braucht dich und Jase hätte nicht gewollt, dass du aufhörst."

Seine Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich wusste, dass er recht hatte. Jase hätte gewollt, dass ich weitermache, dass ich das Trapez wieder erklimme. Doch die Vorstellung, es mit jemand anderem zu tun, schien unmöglich. Es fühlte sich an, als würde ich ihn verraten. Als würde ich uns verraten.

„Ich..." Meine Stimme brach, und ich senkte den Blick, starrte auf den staubigen Boden unter meinen Füßen. „Ich kann nicht."

„Du bist ein wichtiger Bestandteil dieses Zirkus' und er braucht dich und deine Showeinlage." sagte mein Vater ernst. „Unsere Einnahmen sind schlechter denn je."
Ich schluckte, schloss die Augen und atmete tief durch. Mein Herz schlug immer noch zu schnell, die Panik saß mir im Nacken.

„Wer?" brachte ich mühsam heraus, während ich mir mit der Hand grob die Tränen aus den Augen wischte. Ich weinte nicht. Ich wollte nicht weinen. „Wer soll an Jases Stelle sein?" Meine Stimme wurde schärfer, je mehr ich sprach und ich spürte, wie die Worte schneller aus mir herausbrachen. Es war, als würde in mir alles auf einmal hochkochen – Wut, Trauer, Verzweiflung. Es war so unfair.

Mein Vater zögerte kurz, bevor er schließlich antwortete. „Xilian Noxville. Er ist ein großartiger Akrobat, zwei Jahre älter als du." Seine Stimme war ruhig, fast geschäftsmäßig, als ob das einfach eine normale Entscheidung wäre, als ob es nur darum ginge, einen neuen Partner zu finden. „Du wirst dich arrangieren müssen, Rhea. Das Leben geht weiter."

Diese Worte trafen mich hart, wie ein Schlag ins Gesicht. Das Leben geht weiter. Wie sehr ich diesen Satz hasste. Wie leicht es für ihn war, das zu sagen, als wäre es so einfach, als müsste man nur weitermachen, ohne zurückzublicken. Als wäre Jase einfach ersetzbar.
Mein Magen drehte sich bei dem Gedanken um.

Xilian Noxville. Schon jetzt hasste ich ihn, obwohl ich ihn nicht einmal kannte. Hasste die bloße Idee, dass er in die Manege gehen und an Jases Stelle treten würde. Hasste ihn dafür, dass er – ob er es wollte oder nicht – der Ersatz für meinen besten Freund sein sollte.

„Ich will das nicht," flüsterte ich schließlich, meine Stimme brüchig, voller Schmerz. Aber mein Vater sah mich nur an, mit einem Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Mit einem Hauch von Bedauern, aber auch mit dieser unerschütterlichen Entschlossenheit, die er immer hatte, wenn er glaubte, dass es keine andere Wahl gab.
„Du musst es versuchen, Rhea," sagte er gleichgültig.

In diesem Moment war es unmöglich, das zu akzeptieren. Unmöglich, sich vorzustellen, dass jemand anderes an Jases Stelle sein könnte. Unmöglich, die Idee zuzulassen, dass das Leben einfach weitergehen sollte, während ich das Gefühl hatte, es wäre stehengeblieben.

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