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Vor dem Zirkuszelt hielt ich abrupt inne. Es war bereits dunkel geworden und die Luft war erfüllt von dem süßen, vertrauten Duft von Popcorn, gebrannten Mandeln und der typischen Mischung, die nur der Zirkus mit sich bringt. Mein Herz begann schneller zu schlagen, aber das war kein angenehmes Kribbeln der Aufregung. Es fühlte sich an, als würde jemand tief in meine Brust stechen. Unvermittelt überkam mich die Erinnerung, ein Flashback, so stark, dass es mich beinahe von den Füßen riss. Jase und ich – wir waren damals hier, vor der Show. Vor dem Unfall der alles verändert hatte. Wir waren ohne Eile ins Zelt geschlendert, hatten uns eine Tüte Popcorn geteilt und gelacht. Leicht und unbeschwert.

Jetzt war nichts mehr davon übrig. Die Erinnerungen an diesen Tag fühlten sich an wie ein tiefer Schnitt, der nie richtig verheilt war.

Ich konnte nicht weitergehen.
Mein Lächeln von vor wenigen Sekunden war verschwunden, verflogen in einem Moment der schmerzhaften Klarheit.
Der Unterschied zwischen einem leeren Zirkuszelt und einem Zelt voller Menschen, voller Leben, war überwältigend. Früher hatte dieser Ort für mich das Gefühl des Lebendigseins verkörpert. Jetzt erinnerte er mich nur daran, dass Jase es nicht mehr war.

„Schönen Abend, Rhea.", hörte ich Kelseys Stimme. Sie lächelte mich sanft an, ein Lächeln, das voller Verständnis war. Sie wusste es, sie spürte es. Sie wusste, warum ich nicht hineingehen konnte. Mit einer stummen Geste, einem sanften Luftkuss, verabschiedete sie sich und verschwand im Zelt.

Ich stand noch einen Moment da, kämpfte gegen die Erinnerungen, gegen den Schmerz. Dann drehte ich mich um und ging. Weg von dem Zelt, weg von dem Ort, an dem die Vergangenheit zu laut war, um sie zu ertragen.

Meine Gedanken rasten, mein Atem wurde schneller. Es fühlte sich an, als würde mein Körper auf Autopilot laufen, während ich über den Platz in Richtung der Wohnwagen eilte. Weg. Nur weg. Bis ich plötzlich in etwas hineinrannte. Nein, in jemanden hineinrannte. Der Aufprall war so heftig, dass ich fast zu Boden gegangen wäre.

„Was zum..." murmelte ich, als ich aufblickte und meine Augen sich sofort verengten. Vor mir stand ein Mann, schwarzhaarig, mit dunkelgrünen Augen, die mich, zu meinem Ärger, belustigt anstarrten.

„Das ist unbefugtes Gelände für Besucher. Ich muss Sie bitten, zu gehen!" Meine Stimme klang geschäftsmäßig, aber es lag eine klare Schärfe darin. Ich hatte keine Geduld mehr für so einen Scheiß.
Er sagte nichts. Starrte mich einfach nur weiter an. War er taub?

„Hallo! Ich rede mit Ihnen!" Ich war sowieso schon am Rande des Zusammenbruchs, und seine stumme Reaktion war genau der Funke, der das Feuer in mir entfachte.
Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. „Ich weiß. Dich hört man vermutlich bis in die Innenstadt."

„Bitte?!" Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. „Wir haben hier Sicherheitspersonal und das Gelände ist privat. Ich bin verpflichtet, Sie von hier fortzubegleiten."

Er hob eine Augenbraue, als hätte ich gerade den witzigsten Witz erzählt. „Ach wirklich? Wirst du mich jetzt rauswerfen?" Seine Stimme war ruhig, aber der spöttische Unterton ließ meinen Puls noch schneller schlagen. War das überhaupt noch möglich?

„Ja, das werde ich!" Ich trat einen Schritt näher, die Hände in die Hüften gestemmt. „Das ist kein öffentlicher Spielplatz, falls Sie das nicht bemerkt haben."

Er musterte mich von oben bis unten, als ob er einschätzen wollte, ob ich es ernst meinte. „Du siehst nicht aus wie jemand, der viel wirft, geschweige denn jemanden."

Ich spürte, wie die Wut heiß in mir aufstieg.
Er lachte leise, verschränkte die Arme vor der Brust und zuckte mit den Schultern, die Augen immer noch funkelnd vor Belustigung. „Tut mir leid, aber wenn der Schuh passt..."

All Eyes on MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt