10 - xilian

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Sie war einfach gegangen. Ohne ein weiteres Wort hatte Rhea Velaris mir die Tür direkt vor der Nase zugeschlagen. Ich stand einen Moment lang wie angewurzelt da, spürte noch das leichte Vibrieren des Türrahmens, während das Knallen in meinem Kopf nachhallte. Das Gespräch mit ihrem Vater war schon seltsam gewesen. Es hatte mir mehr als deutlich gezeigt, dass zwischen den beiden keine Wärme herrschte. Und doch hatte sie mir irgendwie leid getan. Als sie in der Tür gestanden hatte, mit ihren zerzausten braunen Haaren und dem Abdruck auf der Wange, den sie sich wohl im Schlaf zugezogen hatte. Ich konnte mir ein Grinsen und einen spitzen Kommentar nunmal nicht verkneifen, als ich daran dachte.

Ich wusste, was mit ihr passiert war. Der Unfall. Ein Schicksalsschlag, wie er einen nur einmal im Leben trifft, wenn überhaupt. Aber trotz all dieser Informationen, die ich irgendwie über sie und ihren Vater kannte, waren sie mir fremd. Mein Wissen beschränkte sich auf das, was man eben so in Zirkuskreisen hörte. Jeder wusste Bescheid über den Unfall. Als es passiert war, hatte mein alter Zirkus in Kiew uns alle darüber informiert. Mitleidsbekundungen wurden ausgesprochen, wie es sich gehörte, aber danach... nun ja, danach hatte niemand mehr wirklich darüber gesprochen. Der Zirkus war ein schnelllebiger Ort. Die Tragödien anderer Leute versanken schnell in den Hintergrund, sobald der eigene Alltag weiterging.

Doch dieser Alltag war für mich in Kiew bald vorbei gewesen. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, hatte sich unser Zirkus aufgelöst. Wir waren nie besonders groß gewesen, eine Attraktion für Einheimische und Touristen, aber wir hatten unser Publikum. Trotzdem war klar, dass es vorbei war, als die Kämpfe begannen. Jeder von uns musste einen neuen Weg finden. Manche gingen zurück zu ihren Familien, andere suchten sich Engagements in anderen Ländern. Wir verteilten uns in alle Richtungen, und ich landete hier.

Akrobatik war mein Leben, schon immer gewesen. Ich war gut, das wusste ich. Sehr gut sogar. In meinem alten Zirkus war ich einer der Hauptattraktionen gewesen. Meine Nummer hatte es einmal fast zur „Grand Cirque Championship" geschafft – den GCC, der prestigeträchtigsten Zirkusmeisterschaft, die es gibt. Das war der Traum eines jeden Artisten. Doch der Krieg hatte all das zunichtegemacht. Jetzt war ich hier, in einem neuen Zirkus, einem neuen Leben.

Es war nicht so, dass ich es vermisste. Im Gegenteil, der Tapetenwechsel tat gut. Die Vergangenheit ruhen lassen – oder wie ging diese verdammte Floskel noch mal?
Jedenfalls versuchte ich, diese Gedanken beiseitezuschieben, während ich auf dem Weg zum riesigen Zirkuszelt war. Ohne Witz, das Ding war das größte, was ich je gesehen hatte. Es war wie eine Festung aus Stoff und Seilen, die den Himmel aufteilte. Wenn ich den Worten ihres Vaters Glauben schenken konnte, würde Rhea schon nachkommen. Doch bis dahin hatte ich Zeit, mich ein wenig umzusehen.

Der vordere Bereich der Backstage war funktional und eher uninteressant mich zig es eher in Richtung des Eingangs zur Manege.
Mein Blick wanderte über die Ränge, die sich um die Arena zogen. Die Anzahl der Sitzplätze ließen keinen Zweifel daran, wie viele Menschen hierherkamen, um sich diese Attraktion anzusehen. Ein Kribbeln lief mir den Rücken hinunter – der Gedanke, wieder vor einer solchen Menge aufzutreten ließ mein Herz für einen Moment schneller schlagen. 

Plötzlich hörte ich es hinter dem Vorhang knistern, und eine kleine, blonde Frau steckte ihren Kopf hindurch. Zuerst dachte ich, es sei Rhea. Aber als ich genauer hinsah, bemerkte ich die eisblauen Augen, die nicht zu ihr passten. „Tschuldige, störe ich?" Ihre Stimme war sanft, mit einem leichten russischen Akzent versehen. Ich schüttelte den Kopf. „Nein." Es war alles, zu was ich es brachte.

Sie trat ein, den Blick zu Boden gesenkt. „Xilian, richtig?" Wieder nickte ich, nicht überrascht. Der Neue – jeder kannte mich, auch wenn ich keinen von ihnen kannte. Es war, als würde ein unsichtbarer Scheinwerfer auf mich gerichtet sein, ohne dass ich darum gebeten hatte.
„Du trainierst jetzt mit Rhea, hab ich gehört." Mechanisch nickte ich noch einmal. Wo wollte sie hin mit diesem Gespräch?

„Ich..." Sie hielt inne, suchte offensichtlich nach den richtigen Worten. Als sie aufsah, sah ich, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Sie kämpfte mit dem, was sie sagen wollte. „Hör zu, ich kenne dich nicht, aber ich kenne Rhea. Sie ist... durch. Komplett durch. Und sie vertraut dir nicht.
...Pass bitte auf sie auf, ja?"

Ein Lachen stieg in mir auf, aber es blieb mir im Hals stecken. Die Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme, die flehende Note, die mir in ihrem Blick begegnete, ließen es im Keim ersticken. Da war keine Spur von Humor in ihren Worten. Keine Übertreibung.

„Bitte." Sie sah mich mit einer Dringlichkeit an, die mich innehalten ließ. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber was hätte ich sagen können? Versprechen, die ich vielleicht nicht halten konnte? Erklärungen, die mir selbst noch nicht ganz klar waren?

Ich nickte nur stumm. Irgendetwas in ihrer Bitte berührte etwas in mir, einen Teil, den ich lange weggesperrt hatte. „Ich werde tun, was ich kann," murmelte ich schließlich kälter als erwartet.

Sie schien erleichtert zu sein, nickte kurz und drehte sich um. Als sie durch den Vorhang verschwand, fühlte es sich an, als hätte sie mir mehr als nur ein einfaches Gespräch hinterlassen.

Und als ich schließlich wieder allein war, sah ich in Richtung der Manege, die vor mir lag. Der Ort, an dem alles begann. Aber auch der Ort, an dem sich vielleicht alles ändern würde.

All Eyes on MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt