Nachdem er seine Tasche auf dem Boden abgestellt und in seinen Fensterplatz geplumpst ist, bleibt er erstmal still sitzen. Ich erwarte nicht wirklich, dass er sich mit mir unterhalten will. Also lächele ich ihm noch einmal kurz zu und versinke dann wieder in der Musik.
Nach einer Weile ist das Flugzeug gut gefüllt und links neben mir sitzen zwei ältere Damen, die sich im Akzent lastigen 'American English' unterhalten. Die erste Durchsage des Piloten erfolgt und er erläutert uns das Verhalten in Notsituationen, während dessen uns Stewardessen die einzelnen Schritte vorne zeigen. Wie üblich überprüfe ich schnell, ob sich unter meinem Sitz auch eine Schwimmweste befindet. Als ich den knisternden Stoff ertaste, sinke ich erleichtert zurück in meinen Sitz. Anschließend bedankt sich der Pilot für unser Vertrauen und wünscht uns einen guten Flug. Ich kann nur hoffen, dass er das Vertrauen verdient.
Schließlich rollt das Flugzeug langsam los auf die Startbahn. Ich kralle mich so doll in dem Sitz fest, dass meine Knöchel weiß hervortreten. Mein Herz klopft wie verrückt und meine Ohren rauschen. Doch wie so oft sind meine Ängste unbegründet und wir fliegen hoch und immer höher, bis wir die paar Wolkenfetzen und das diesige New York hinter uns gelassen haben.
Wie ich einem Hightech Fernseher am anderen Ende des Ganges entnehmen kann, haben wir die konstante Flughöhe erreicht. Ein kleines Gefühl der Sicherheit kriecht durch meinen zitternden Körper. Ich entspanne langsam meine schmerzenden Glieder und bin erleichtert. Ein Teil schonmal geschafft! Zum ersten mal mustere ich meinen Sitznachbarn etwas genauer. Er hat dunkelbraunes, kurzes Haar und etwas hellere, also haselnussbraune Augen. Er ist ziemlich groß und hat einen gesunden, aber nicht überanstrengten Körper durch Sport. Ich glaube, den mag ich. Ich bin manchmal ein totaler Sportmuffel. Als ich ihn eine Weile eingehend betrachtet habe, fallen mir mehr Details und Einzelheiten auf. Zuerst die postitiven wie seine kleinen Lachfältchen um den Mund und das aufgeweckte Blitzen in seinen tiefgründigen, sanften Augen. Doch auch die negativen fallen mir auf. Sie erinnern mich an mein Gesicht. Tiefe, dunkle Schatten unter den Augen, Sorgenfalten auf der Stirn und blasse Haut. Was war ihm wohl widerfahren? Vielleicht ist er krank. Oder jemand aus seiner Familie.
Während ich noch darüber nachdenke, höre ich plötzlich eine melodische Stimme neben mir. "Sie also auch?" Ich blicke auf. Mein Gegenüber mustert mich mit einem wissenden Blick. Verwirrt schaue ich zurück. "Wie bitte?" Super, etwas unpassenderes hätte mir definitiv nicht einfallen können aber ich habe keinen blassen Schimmer, was er meint. "Haben sie auch Flugangst?", wiederholt er. Das erklärte schonmal seine Augenringe und Sorgenfalten. "Ist das so offensichtlich?", frage ich unsicher. Der junge Mann lächelt. "Na ja, irgendwie schon." Na toll. Jetzt habe ich mich mal wieder total blamiert. Ich hasse es, Schwäche zu zeigen. "Aber schauen sie sich doch mal um! Ich denke nicht, dass sie die einzige sind.", fügt er hinzu und mein Blick folgt seinem durch die Reihen. Er hat Recht! Einige der Menschen hier weisen dieselben Symptome auf. Jedoch sind sie oftmals jünger als ich. "Die sehen aber alle ziemlich jung aus.", spreche ich meine Gedanken aus. "Und wenn schon. Jeder hat doch vor etwas Angst. Außerdem sind nicht alle jünger als sie!", meint er grinsend und weist auf sich. "Ja, aber sie sind die einzige Ausnahme.", erwidere ich doch lächele auch. Zum zweiten mal, seitdem ich das Flugzeug betreten habe. Keine schlechte Quote!
Ich habe vergessen, wie, aber irgendwie fangen wir ein richtiges Gespräch an. Er erzählt von seiner Familie, seinem Leben in Deutschland und sogar einigen witzigen Erlebnissen. Schnell wird mir klar, dass er ein sehr offener und positiv denkender Mensch ist. Also das komplette Gegenteil von mir. Wir hören auf, andauernd 'Sie' zu sagen und nach einer Weile sind wir total abgelenkt von unseren Sorgen. Er redet eigentlich die ganze Zeit und ich gebe meine Kommentare dazu ab oder lache mit ihm darüber. Es macht wirklich Spaß, mit ihm zu reden, weil er mich nicht beurteilen kann. Er kennt nicht meine schlechten Charakterzüge und eben nur die, die ich ihm zeige. Deshalb bin ich entspannt und kann mich einfach fallen lassen. Wir bestellen uns Essen, suchen unsere Lieblings Filme auf den Fernsehern und schauen sie uns an. Irgendwo zwischen 'Notting Hill' und 'Der Transporter' schlafe ich ein.
Ein heftiger Ruck lässt mich aufwachen. Immer noch verschlafen öffne ich meine Augen und realisiere erst langsam, wo ich bin. Im Flugzeug ist es dunkel. Es ist Nacht geworden und nur die kleinen Nottürlämpchen verbreiten ein ungemütliches, grünes Licht. Ich schlage die Decke zurück und setze mich auf... Warte mal, wo war die Decke hergekommen? Doch im Moment kann mir das wohl egal sein, denn als ich in das Gesicht meines Sitznachbars schaue, bemerke ich, dass wir andere Sorgen haben. Die Falten auf seiner Stirn und der angestrengte, konstante Blick in Richtung Cockpit seinerseits kann wohl nichts gutes bedeuten.
"Was ist denn-", will ich grade anfangen, als ein gewaltiges Ruckeln und darauf folgendes Krachen das Flugzeug erschüttert. Instinktiv kralle ich mich fest und rutsche noch tiefer in den Sitz hinein. Bitte keine Turbulenzen! "Wir durchfliegen anscheinend grade einen Sturm über dem Meer." Seine Worte kommen ihm nur langsam und stockend über die Lippen. Vielleicht versucht er, mich nicht zu erschrecken. Oder sich selbst... "Wie lange geht das schon so?", frage ich und bin sehr erstaunt über meine feste, ruhige Stimme. Ich glaube, ich will uns beiden Mut machen. Stark sein für mehrere, was mir sonst sehr schwer fällt. "Erst fünf Minuten.", meint er und dreht sich endlich mal in meine Richtung. Seine Augen spiegeln dieselbe Furcht wieder, die meine Kehle zuschnürt. "Und wie lange habe ich geschlafen?" "Ungefähr zwei Stunden. Wir müssen noch drei fliegen!", presst er zwischen zusammen gebissen Zähnen hervor.
'Bitte Gott, mach dass alles gut geht!', sind alle Gedanken, die ich Zustande bringe. Er wendet sein Gesicht wieder nach vorne. Ich schaue mich kurz um. So gut wie alle Personen sind wach geworden oder haben noch gar nicht geschlafen. Überall müde und beunruhigte Gesichter. Aus den Lautsprechern über uns piepst es und die Stimme des Piloten ertönt. "Liebe Passagiere. Es gibt leider Komplikationen. Durch den Wetterumschlag und das Gewitter entstehen Turbulenzen. Wir bitten sie, Ruhe zu bewahren! Wir werden versuchen-" Seine vertrauenswürdige Stimme wird durch ein ohrenbetäubendes Krachen unterbrochen. Danach herrscht Stille. Totenstille. Nach dem unangenehmen Knall höre ich einen nervenden Ton in meinem Ohr, der sich langsam verflüchtigt. "Die Verbindung ist abgebrochen.", flüstert mir mein Sitznachbar ins Ohr. Unruhe bricht aus. Das Flugzeug wackelt bedenklich und fällt ein paar Meter ab. Panische Schreie aus allen Richtungen sind zu hören. 'Wenn jetzt eine Panik ausbricht...' denke ich noch.
Ich kann nichts mehr tun außer da zu sitzen. Eine Schockstarre ergreift meinen Körper. Das Gefühl erinnert mich an den Moment, als die Diagnose Krebs bei meiner Mutter festgestellt wurde. Genauso wie damals sitze ich hier. Ich kann nicht atmen, nicht weinen, nicht schreien.
Wie von meilen weit weg höre ich lautes Schluchzen. Schreie, Blitze und Donner erfüllen die Albtraum Nacht. Doch sie scheinen so weit entfernt zu sein. 'Ich kann nicht hier sitzen', denke ich. 'Ein anderer Mensch wartet hier auf den Tod. Und es tut mir Leid, dass ich ihm nicht helfen kann!' Es ist, als würde ich vor meinem Fernseher sitzen und das Geschehen durch ihn verfolgen. Das Flugzeug neigt sich nach vorne und stürzt ohne Bremsung in die pechschwarze Nacht.
Eine kühle Hand legt sich auf meine, reißt mich aus meinem Parallel Universum. Ich schaue in seine Angsterfüllten Augen. Doch auch etwas anderes liegt in ihnen. Etwa Entschlossenheit? Mein Kampfgeist hat mich längst verlassen. Ich bereue es, ihn nicht nach seinem Namen gefragt zu haben! Doch es war so gewesen, als hätten wir uns schon ewig gekannt. Zeit oder so etwas unbedeutendes wie Namen hatte nicht mehr gezählt. War verschwunden. Doch jetzt will ich seinen Namen wissen! Als mir plötzlich mein entgültiger Tod klar wird, lächele ich. Gleichzeitig fällt eine einzelne Träne meine Wange hinunter und verfängt sich in meinen Haaren. Eine Träne für einen Menschen, den ich fast gar nicht kennen lernen durfte.
Seine weiche Hand umschließt die meine. Und in dem Moment wird mir klar, dass er mir etwas schenkt, das ich ohne ihn nicht hätte. Hoffnung!
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Hier die Fortsetzung zu der ersten Kurzgeschichte :) Wie gesagt hatte ich sie getrennt, weil sie sonst zu lang geworden wäre.
Wenn euch dieses Format und die Kurzgeschichte gefällt, würde ich mich sehr über Abstimmungen und Kommentare freuen ;)xx Carlotta
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Short Stories
Short StoryEin Versuch zu denken, fühlen und sehen in fremdem Kopf. Aus anderer Perspektive. Ein Momente Fänger. Eine Sammlung einiger Geschichten, Inspirations Schüben und alten verstaubten Ideen, die nicht zu Ende geführt wurden. - [Cover von mir!] [Unreg...