t w e n t y

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Der Wind wehte so unvorstellbar laut. Es war eisig kalt und Schnee wehte ihr ins Gesicht. Dunkel war es. Ja, so dunkel, dass man die Augen ohne Grund immer weiter aufriss, um die Bilder nicht mehr vor Augen sehen zu müssen. Auch wenn sie wusste, dass es nichts half. Gar nichts half ihr mehr. Nichts konnte sie mehr in ihrem Umfeld erkennen.

Außer dem schwarzen, schweren Grabstein vor ihr ihren dreckigen Schuhen. Ihre Schuhe waren dreckig. Die Wiese, auf denen die Grabsteine standen, war matschig durch die sich auflösenden Schneeflocken. Doch die, die sich auf dem Stein sammelten, blieben auf dem kalten Ding liegen und blinkten schön im leichten Mondlicht. Schön. Unpassender ging es gar nicht.

Dort stand sie mit dreckigen Schuhen vor einem verschneiten Grabstein und fühlte sich so entsetzlich abartig und klein, dass ihr fast schlecht wurde. Langsam setzte sie einen Fuß bedächtig vor den anderen. Versuchte, nicht zu laut zu sein, um mit ihren dreckigen Schuhsohlen niemanden zu wecken. Unter ihr, unter dem durchnässten Gras und der braunen Erde.

Sie kniete nieder, strich einmal über den Stein. Noch einmal. Jetzt waren die Schneeflocken weg. Ein Name prangte auf dem Stein. 'Lilianne Walker'. Schnell zog sie ihre Hände zurück. Sie fühlte sich so schlecht. So schuldig.Sie stellte sich wieder gerade hin. Schloss ihre Augen für eine Sekunde. Dachte sie.

Drei ganze, komplette, gesamte Jahre war es her. Die Bilder spulten zurück an den Tag. Das Lied trudelte in ihrem Kopf, sie konnte es nicht zurückhalten. Die Erinnerungen drängten sich in ihren Kopf, bohrten sich in ihr Bewusstsein. Er hatte sie abgefüllt. Sie hatte nichts dagegen unternommen. Sie hatte doch nur Spaß haben wollen. Leben, als was es andere bezeichneten. Und er hatte sie geküsst, sie hatte sich nicht gewehrt. Sie hatte genickt als er fragte, ob sie sein Zuhause sehen wollte. Sie war so unglaublich dumm gewesen. Sie hatte gedacht, sie könnte noch fahren. Ihn hatte es nicht interessiert, dass sie nicht mehr grade gehen konnte.

Und so war sie eingestiegen, hatte den Wagen gestartet, war los gefahren. So dumm. Hatte nicht bemerkt, dass es nicht ging. Nicht verstanden, was sie grade tat. So naiv. Und schließlich hatte sie nicht gesehen wie ein Ball auf die Straße gerollt war. Nicht erfasst, dass der Ball einigen Kindern gehört hatte. So töricht. Ihre Augen waren zu langsam, ihr Verstand zu benebelt. Sie hatte das Mädchen nicht gesehen. Nein. Sie hatte sie nicht gesehen. Aber den Blick, die angsterfüllten Augen eines Kindes in der letzten Sekunde vor dem Tot hatte sie noch gesehen. Sie hatte es so sehr verdient, zu leiden. Sie war kein Mensch. Sie hatte ein unschuldiges Kind überfahren. Ermordet. Tot gequetscht. Sie war eine Mörderin.

Ihr Fuß reagierte viel zu spät. Sie knallte mit dem Kopf gegen die Frontscheibe. Ihre Sicht wurde vernebelt, unscharf. Die Tür neben ihr öffnete sich und den Mann sah sie nie wieder. Mit letzter Kraft und einem abartigen metallischen Geschmack im Mund öffnete sie die Autotür und stieg aus. Mörderin. Die Leiche lag quer unter ihrem Auto. Mörderin. Die braunen Augen waren starr. Tot. Die Haare hingen in ihrem Gesicht. Mörderin. Die Arme verdreht, das Bein schief. Mörderin. Und sie stand vor der Leiche und regte sich nicht. Ohne Ausdruck oder Emotion. Sie war mit dem Mädchen gestorben. Irgendwann hielt sie den Anblick nicht mehr aus. Ihren Blick abwendend schaute sie auf die andere Straßenseite. Ein kleiner, bunter Ball lag dort. Mit einer Prinzessin darauf. Blut. Überall Blut. Es klebte an den Straßenlaternen, den Büschen. Das schlimmste aber war, dass es nicht von ihren Händen abging. Egal wie lange sie sie an ihrer Hose abwischte, egal wie verzweifelt sie wurde, schrie und Tränen vergoss. Das rote, abartige, tote Zeug verschwand nicht.

Wärme durchzuckte ihr Handgelenk. Ihre Augen öffneten sich wie von selbst. „Drei Jahre." Ihr Blick ruhte auf ihrer Hand, die von einer schwachen anderen umklammert wurde. Sie schaute auf.

„Drei Jahre lang haben sie sich nicht getraut, hier aufzukreuzen." Die braunen Augen waren getränkt. Getränkt von Hass und Wut. Sie widerstand dem Wunsch, sie weiterhin anzustarren und senkte ihren Blick wieder auf den schwarzen Grabstein.

„Ja." Ihre Stimme erklang wieder. Nach so langer Zeit. Ihre Schuhe waren dreckig. Sie fühlte sich so leer, so allein.

„Sie haben meine Tochter umgebracht. Sie war erst sechs Jahre alt." Sie hatte noch nie so viel Wut und Resignation in einem Satz vernommen. Mörderin. Sie war kein Mensch mehr. Wollte keiner mehr sein.

Ihre Sicht verschwamm, sie blickte zurück zu der Frau neben ihr. Eine eisige, blutige Träne löste sich als sie antwortete: „Ja."

Die Frau schaute sie an. Keine Gefühle mehr, gar nichts mehr lag in ihrem Blick. Das war noch viel schlimmer als vorher. „Alles. Alles haben sie mir genommen. Sie sind so feige. Sie haben meine Tochter ermordet."

Eine Weile wusste sie nichts zu antworten. Sie schaute die Frau an und erkannte schmerzlich die Ähnlichkeiten mit ihrer Tochter.

Und so flüsterte sie, mit der Gewissheit, dass sie danach nie wieder etwas sagen würde: „Der Tod holt jeden schließlich ein. Mich wollen sie auch tot sehen. Verständlich." Krächzend war ihre Stimme. So tot, dreckig und hilflos. So schuldig. „Tun sie es. Ich werde mich nicht wehren."

Die Frau schaute sie noch einige Sekunden an. Dann wandte sie ihren Blick ab, auf das Grab ihrer toten Tochter. „Dann...", erwiderte sie,"dann wäre ich nicht besser als sie." Mit den Worten drehte sie sich um und ging davon.





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