e l e v e n

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Ihre Hand zitterte, als sie das letzte Foto von der Wand nahm und es in den großen Karton zu ihren Füßen pfefferte. Sie war sauer. So sauer war sie lange nicht mehr gewesen. Ihr Blick wanderte zurück zu ihrer kahlen Schlafzimmerwand.

Das Wetter versuchte sie schon wieder zu ärgern. Die Sonne knallte auf ihre weißen, leeren Wände und blendete ihre Augen. „Scheiß Sonne.", murmelte sie. Insgesamt war in letzter Zeit jeder gegen sie gewesen. Ihre Eltern und die blöde Sonne und die COPD.

Wie war dieser ganze Mist gekommen? Die Wut hatte sich mal wieder zu lange in ihr aufgestaut. Sie war kurz vorm explodieren. Also schrie sie so laut sie konnte und hämmerte mit ihren Händen auf die Wand ein. Natürlich brachte dies nichts. Nur dass ihre Knöchel rot wurden und erneut anfingen zu bluten. Aber die Wut war fürs erste weg.

Die letzten Male, als sie Frust abgebaut hatte, hatte sie auf ihre Bettdecke eingeschlagen. Die war etwas weicher. Doch jetzt war sie nicht mehr da. Nichts war mehr da in dem grellen, großen Raum, der gestern noch ihr Zuhause gewesen war. Mit einem Stöhnen ließ sie sich an der Wand hinab gleiten und blieb dort schließlich sitzen. Die Beine weit auseinander gestreckt und die Arme schlaff an ihrem Oberkörper. Woher war dieser ganze Mist nur gekommen? Sie war erschöpft und atmete ruckartig. Nicht umkippen, nur nicht umkippen, Melli!

Auf dem Boden tanzten graue Staubflusen herum, die sie absichtlich nicht weg gesaugt hatte, und taten so, als gäbe es einen Grund zu feiern. Doch den gab es nicht. Denn ihr Zimmer war leer und in dem Karton neben ihr lagen die letzten schönen Erinnerungen, die sie jetzt aufgeben müsste. Langsam hob sie ihren Arm, der plötzlich schwer wie Blei zu sein schien. Das Foto, das ganz oben auf dem Stapel lag und vor ein paar Sekunden von ihr von der zu hellen Wand abgerissen worden war, fand seinen Weg in ihre Hand.

Auf ihm war sie zu sehen. Sie saß auf einem grauen Stein nahe einem Bach in der Dämmerung und blickte zum Himmel. Ach ja, an den Tag konnte sie sich gut erinnern. Sie hatte irgendeinen gut aussehenden Jungen auf der Straße gefragt, ob er Zeit hätte, mit ihr ein Abenteuer zu erleben. Er hatte gelächelt und ja gesagt. Sie waren an den Stadtrand gefahren und hatten sich in die Scheune eines Bauern geschlichen. Dort waren sie immer und immer wieder von dem Dachbalken in das meterhohe Heu gesprungen. Den ganzen Tag lang. Abends waren sie dann an den nah gelegenen Fluss gefahren und hatten sich die Sternbilder angeschaut. Natürlich hatten sie beide keine erkannt aber sie hatten sich einfach ein paar schöne neue ausgedacht. Am Ende waren sie viel gigantischer als die echten gewesen.

Lächelnd legte sie die alte Aufnahme beiseite und griff zum nächsten Augenblick. Auf diesem Bild waren sie und ein paar ihrer Freunde zu sehen. Auch der Heu-Junge war da. Er lächelte sie an. Sie hatte eine Packung Zigaretten in der Hand. Melli bereute es nicht. Nichts von dem was sie getan hatte und an manchen Tagen wieder alles. Sie wäre sehr wahrscheinlich an einem komplett anderen Punkt, wenn sie damals schnell wieder aufgehört hätte. Doch das hatte sie nicht und heute war ein Tag, an dem sie es nicht bereute.

Auf dem nächsten Bild waren ihre eigentlich braunen langen Haare plötzlich kurz und in einem komischen violett getönt. Melli lachte. Es war ein komischer Tag gewesen. An dem Tag hatte sie erfahren, dass sie COPD hatte. COPD war eine lebensbedrohliche Lungenkrankheit. Sie entstand hauptsächlich durchs Rauchen. Die kurzen vier Jahre, in denen sie geraucht hatte, hatten sie zum Krüppel gemacht. Sie nannte sich gerne Krüppel, denn es klang so schön hilflos und tot. Eben das genaue Gegenteil, von dem was sie war. Jedenfalls hatte sie erfahren, dass sie ab diesem Tag ein Krüppel sein würde, mit quasi keiner Chance auf Genesung. Und weil sie kein einfacher, langweiliger Krüppel sein wollte, wurde sie eben zu einem Krüppel mit komischen, violetten kurzen Haaren.

Sie grinste und schmiss die Fotos wieder in den Karton. Als sie sich aufrichtete rebellierte ihre Lunge, doch sie tat einfach so, als wäre alles gut, wie immer. Sie packte die Kiste mit den Erinnerungen und ging langsam mit ihr die Treppe hinunter. Unten angekommen verstaute sie sie in dem überdimensionalen Umzugswagen. Sie würde jetzt umziehen. Hamburg hinter sich lassen. Ihre Eltern fanden, dass sie sich ungezogen benehme. Wahrscheinlich hatten sie sogar Recht, denn sie rauchte weiterhin, als Protest gegen die verfickte COPD. Sie hustete und hatte Atemnot doch das war es ihr Wert.

Einmal im Leben konnte sie zeigen, dass sie ein Kämpfer war, der nicht so leicht aufgab. Auch wenn sie ein unbedeutender Krüppel mit violetten Haaren war. Sie lebte und sie wollte es ihrer Krankheit so lange zeigen, wie sie nur konnte.

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Hey duu :)

Ich freue mich wie immer sehr über Rückmeldungen (entweder durch einen kurzen Klick auf den Stern oder ein Kommentar).

Außerdem wollte ich noch zu dieser Kurzgeschichte anmerken, dass ich auf keinen Fall irgendjemanden angreifen möchte, der eine schlimme Krankheit hat. Ich habe riesigen Respekt vor jedem, der dagegen kämpft und nicht aufgibt! <3 Just keep going. In this life you aren't able to lose.

xx Carlotta


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