Genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Alle Details sind mir einfach entglitten. Es scheint mir mal wieder alles so unklar, aber nicht wie die letzten male. Jetzt ist es-gegen meine Erwartungen- ein leichteres Gefühl, irgendwie freier aber um einiges dunkler und verwinkelter als die vorigen male. Mein gesamtes Leben ist eine Pfütze aus Milch. Trübe schwimmen Fetzen aus der Vergangenheit, Realität und Fantasie an mir vorüber. Zu schnell, um sie erkennen zu können, doch langsam genug, um einen Moment zu denken, man halte ihn bereits in der Hand. Es macht mich verrückt.
Irgendwann fängt man an, alles zu hinterfragen. Einen Schuldigen muss es geben, denn es gibt auch ein Opfer. Und ohne Opfer gäbe es keinen Täter und ohne Täter kein Opfer. Die Frage, wer wer ist, wird mit der Zeit immer weiträumiger, unverständlicher. Jeden Tag fragt man sich diese eine Frage öfter. Wie ein Mantra, ohne Punkt oder Komma. Keine Pause, kein Ende in Sicht.
Ich glaube, es war vor ein paar Stunden. Ich saß im Flur vor meinem Spind auf dem Boden. Die Englisch Stunden waren grade vorbei und ich hatte, wie jeden Dienstag, eine Freistunde, bevor ich mich durch Geschichte quälen musste. Mein Notizheft lag auf meinem Schoß. Komischerweise kann ich mich an diesen einen Augenblick noch sehr gut erinnern. Der Boden war kalt, mein Spind in meinem Rücken unangenehm hart aber es war, als würde er mich umarmen wollen. Mein alter Freund.
Ich winkelte die Beine etwas an, um meinen immer kühlen Körper zu wärmen. Mein Notizbuch, das wunderschöne in Leder gebundene, aus einer unbeschreiblichen Mischung aus Perlmutt, meer- und himmelblau, thronte aufgeschlagen auf meinen Knien. Den Bleistift- eine komische Angewohnheit von mir, nur mit Bleistift zu schreiben- in meiner noch schlaffen Hand. Ungewiss, wie ich mal wieder dieses Chaos in meinem Kopf entwirren sollte. "Also halte ich mir die Ohren zu und höre auf, dem Leben zu lauschen. Es scheint so, als hätte ich genug gehört", schrieb ich auf die perfekte weiße Seite. Als ich gedankenverloren meinen Blick auf den gegenüberliegenden Spind heftete, konnte ich Elizabeths Stimme schon durch den gesamten Flur tönen hören.Alle sagen mir immer, der nächste Tag wird etwas leichter werden. Das Leben schöner. Die Wahrheit. Oder eine Lüge. Auch eine Sache, bei der ich mir nie sicher bin. Ich war schon immer naiv. In den letzten Jahren habe ich gelernt, was Sarkasmus und was Ehrlichkeit ist. Manchmal fällt es mir immer noch schwer, den Unterschied zu erkennen. Jeder Tag leichter. Das Leben schöner. Mir würde es völlig ausreichen, wenn es okay wäre. Eben nicht strahlend, glücklich. Sondern einfach nur erträglich.
"Lasst uns zu Starbucks gehen. Es ist mal wieder viel zu heiß." Ach echt. Es war Juli. Ich verdrehte die Augen und krempelte meine lange Hose an den Knöcheln etwas hoch. "Wen haben wir denn da?" Das Victoria Secret Bodyspray schlug mir entgegen. Ich blickte auf und sah einen Moment in das perfekte engelsgleiche Gesicht von Elizabeth Lawyer. Natürlich waren ihre besten Freundinnen dabei und ein paar Schritte hinter ihr konnte ich ihre Anhänger sehen, darunter viele verzweifelte Jungs. "Willst du mich gar nicht begrüßen?" Sarkasmus. Dieses mal war ich mir sicher. Sie beugte sich etwas zu mir runter und lächelte mir bitter ins Gesicht. "Du bist mir im Weg." Ihre hohe Stimme hörte sich unpassend an. Der leere Schulkorridor war sonst so friedlich. Ich zog meine Beine noch etwas an und murmelte nur: "Ist doch genug Platz." Und tada, die Bombe war explodiert.
Ich fühle mich abartig. Nicht weil ich abartig bin. Sondern weil ich egoistisch geworden bin. Selbstlose Menschen waren immer mein Vorbild, aber mit der Zeit lernt man, dass es einem nicht viel bringt, immer nur an andere zu denken. Also bedauere ich mich. Mein Leben. Wie sich alles entwickelt hat. So ein Mensch will niemand sein. Und ich bin so. Deswegen bin ich abartig, feige, schwach.
"Ach Tessa, das hättest du dir echt sparen können." Sie seufzte, dann spürte ich den harten Schlag auf meiner linken Gesichtshälfte. Ich hielt mir den Kopf, nach dem Herumwirbeln war mir schwindelig und meine Schläfe pochte. Sie war wirklich kräftiger, als sie aussah. Das musste man ihr lassen.
"Was soll das Tessa?" Ich wusste nicht, was sie meinte. "Ein Sweatshirt und eine lange Hose bei den höllischen Temperaturen da draußen?" Sie lachte und ihre Gefolgschaft setzte sofort mit ein. "Vermutlich versteckt sie da drunter ihren fetten Bauch. Oder ihre kleinen Brüste." Denise. Beste Freundin von Elizabeth. Die Wut kam nicht. Ich wartete mal wieder vergebens.
"Ja! Oder ihre Narben. Die sieht aus wie jemand, der sich andauernd ritzt." Mike. Lover von Elizabeth. Wer war schon kein Freund des beliebtesten Mädchens der High School?! Außer mir? Kluge Menschen waren das. So konnten sie so einer Situation gut entgehen.
"Dir muss doch ganz heiß sein." Amüsiert und angestachelt von ihren Verbündeten griff sie in ihre Tasche und zog ein Taschenmesser raus. "Lass mich dir helfen!" Überrumpelt schaute ich sie an. Langsam wurde es ernst. Mein Kopf funktionierte nicht. Alle Instinkte tendierten zur Flucht aber ich war so erschöpft vom sitzen, atmen, leben. „Lass es bitte!", brachte ich heraus bevor sie mir mit einem lauten Ratsch meinen Lieblings Sweater zerriss. Endlich verstand mein Körper was hier passierte. Mit einem geschockten Keuchen sprang ich auf meine Beine und hielt den schwarzen Fetzen in meinen Händen, während ich versuchte, meine Tränen zurück zu halten. Das letzte was ich tat, war ihr mit einem rasenden Blick vor die Nikes zu spucken. Dann ging die Masse auf mich los und ich wusste gar nichts mehr. Außer einem letzten, höhnischen Wort, was mir noch lange im Gedächtnis blieb, obwohl ich schon längst nicht mehr anwesend war. "Abschaum!"
Es ist so verlockend, einfach die Augen zu schließen und aufzuhören, zu denken, zu fühlen, zu leben. Denn alles um mich herum hat sich in eine trübe Masse aus Hass, Gewalt und Gleichgültigkeit verwandelt.
Also halte ich mir die Ohren zu und höre auf, dem Leben zu lauschen. Es scheint so, als hätte ich genug gehört.
Jetzt liege ich auf dem blutigen Boden des Flure und die Stille ist endlich wieder eingekehrt. Ich schaue der roten Masse zu, wie sie sich aus meinem Mund über den dreckigen Boden ergießt. Ich frage mich, ob es jetzt endlich vorbei ist. Schließlich muss es irgendwann mal ein Ende geben. Das ist mathematisch berechenbar.
Jedenfalls fühle ich mich meinem Körper fremder als sonst. Ein eigenartiges Gefühl. Ja, ich glaube, ich habe es endlich geschafft. Ich bewege meinen Kopf und sehe meine aufgeschürften, blauen Beine, doch sie tun nicht weh. Ich liege auf meinem verrenkten Arm doch er schmerzt nicht. Meine Augen sind geschwollen und ich sehe kaum etwas. Ich spüre nichts, fühle nichts, denke nichts. Ich glaube, ich bin endlich erlöst. Ein eigenartiges Gefühl.
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Short Stories
Short StoryEin Versuch zu denken, fühlen und sehen in fremdem Kopf. Aus anderer Perspektive. Ein Momente Fänger. Eine Sammlung einiger Geschichten, Inspirations Schüben und alten verstaubten Ideen, die nicht zu Ende geführt wurden. - [Cover von mir!] [Unreg...