Das glasklare Wasser schimmerte. Der Wind spielte mit ihren grauen Haaren und ihre Hände waren kalt. Das Land war in strahlendes weiß getaucht. Es war eingehüllt in einen wunderschönen Mantel, der die Makel verschwinden lassen konnte und die pure Perfektion hinterließ. Auch sie trug ihre perlweiße Winterjacke. Vor langer Zeit hatte sie sie geschenkt bekommen. Es wurde jeden Tag schwerer, sich an all die schönen Einzelheiten zurück zu erinnern. Sie verblassten unaufhörlich und lösten sich in Luft auf. Es schien, als hätten sich alle dieser Erinnerungen hier versammelt. Denn jedes mal wenn sie blinzelte, sah sie längst vergangene Tage an sich vorüber ziehen. Sie konnte das Lachen hören und das Weinen. Stundenlange Gespräche und unendlich langes Schweigen. Doch fast nur positive Momente überfluteten sie. Wenige schlechte hatte sie hier verbracht.
Sie sah ein kleines Mädchen an sich vorbei laufen. Nur mit einem dünnen Sommerkleidchen bekleidet. Die schon langen, wallenden blonden Haare über seinem Rücken. Lachend, tanzend, springend über die plötzlich Sommergrüne Wiese. Es folgte einem bunt schillernden Schmetterling. Das Bild veränderte sich. Es wurde Herbst. Ein junges Mädchen, vielleicht 14 Jahre alt, saß am Rande des grauen Sees. Es sah traurig aus. Doch sie vermochte nicht, seine Sorgen zu sehen. Plötzlich sprang das Mädchen auf und lief hinein in den Frühling. Es war älter geworden. Es lag auf dem zart grünen Teppich. Doch es war nicht allein. Neben ihm lag ein Junge in derselben Größe. Sie unterhielten sich. Sie lachten. Sie schienen sich zu mögen.
Und so ging es weiter und die Jahre gingen verloren. Doch sie konnte sie wieder scharf sehen. Das Mädchen wurde groß. Hübsch und selbstbewusst. Es suchte jedes Jahr aufs Neue Zuflucht am See. Manchmal war es alleine und lag im Schatten der Bäume, grübelnd über das Leben, sich selbst und die Zukunft. Doch oft war es in Begleitung eines Mannes. Er wich ihr nicht von der Seite, wenn sie zusammen da waren. Er schaute nur sie an und war glücklich. So wie sie.
Es wurde Winter. Die Oberfläche des Sees war gefroren, weil es ein sehr kaltes Jahr war. Die Frau fuhr Schlittschuh. Das Lächeln schien ihr wie ins Gesicht gemeißelt zu sein. Der junge Mann kam und kniete plötzlich vor ihr nieder. Und sie lachte und weinte Freudentränen.
Die nächsten Jahre kamen sie nicht sehr oft. Doch als der See sie beim nächsten mal erblickte, waren sie nicht mehr zu zweit. Es war Sommer und die Vögel schauten den dreien neugierig hinterher. Ein Junge mit Zitronen farbenen Haaren lief an der Hand der Frau. Und jetzt zogen die Jahre sehr schnell an ihr vorbei. Ein kleines Mädchen gesellte sich zu ihrem Bruder. Und sie wurden groß und größer und kamen manchmal alleine an den See, wie ihre Mutter einst.
Sie lächelte. Und sie konnte sich erinnern.
Die blonden Kinder wurden erwachsen und die Frau und ihr Mann kamen öfter zu zweit. Doch sie waren alle glücklich. Nach ein paar Jahren kamen viele kleine Kinder mit an den Platz. Sie alle mit blonden Haaren. Und auch sie wuchsen heran.
Ein letztes mal wechselte das Bild vor ihren Augen. Sie sah sich und ihren Mann am Rande des Sees sitzen. Es wurde grade Herbst. Sie sahen sich tief in die Augen und feierten ihre Goldene Hochzeit. Es hätte nichts gegeben, was sie sich noch gewünscht hätten.
Der Schnee war zu hell und sie schloss kurz die Augen. Der Geruch der Kiefern war ihr nun schon so vertraut, dass dieser Ort ihr zweites Zuhause geworden war. Doch heute war sie alleine hier. Und sie fühlte sich nicht mehr willkommen. Sie würde anderen Familien Platz machen, die kommen würden. In diesen versteckten Abschnitt ihres Waldes.
Das Hellblaue Wasser färbte sich an einer Stelle etwas grau. Die Urne in ihren Händen wurde immer leichter, als sie die Asche von ihm verstreute. Sie drehte ihren Ehering noch einmal am Finger und prägte sich das Gefühl ein.
Dann ließ sie ihn zusammen mit ihrer Liebe in den tiefen See fallen. Sie war nicht traurig. Denn sie hatte alles gehabt, was man sich wünschen konnte. Und sie wusste auch, dass sie nicht lange getrennt sein würden.
Ein letztes mal sah sie den silbernen Ring aufblitzen. Als ob er ihr auf Wiedersehen sagen würde. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Und sie drehte sich um und verließ den Ort, der der Schauplatz ihres Lebens gewesen war.
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Short Stories
Short StoryEin Versuch zu denken, fühlen und sehen in fremdem Kopf. Aus anderer Perspektive. Ein Momente Fänger. Eine Sammlung einiger Geschichten, Inspirations Schüben und alten verstaubten Ideen, die nicht zu Ende geführt wurden. - [Cover von mir!] [Unreg...