Extraordinary Girl

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Es war still.

Still unter der Eisenbahnbrücke.

Der letzte Zug an diesem Tag war vor einer Minute gefahren.

Ich zog an meiner Zigarette und blies den Rauch zurück in die warme Kalifornische Luft.

Ich schnippte die Asche auf den staubigen Boden, auf dem der Sessel, in dem ich gerade saß, stand.

Es war mein Lieblingssessel.

Das zerschlissene, dreckige und ausgesessene Sitzpolster war so bequem, dass man einfach nicht anders konnte, als es sich darin gemütlich zu machen und einfach zu träumen.

Außerdem stand er hinter einer großen Säule und trennte somit einen kleinen Bereich ab, sodass man seine Ruhe hatte.

Wenn hier jemand saß, dann kam auch niemand hier her.

Das wurde respektiert.

Denn wer hier saß, brauchte Ruhe.

Ruhe zum nachdenken, einen Rückzugsort.

Und ich brauchte gerade auch Abstand von den anderen und von allem.

Hier wurde einfach jeder akzeptiert, hier war ich ein normaler Mensch, ebenso waren hier die anderen, die nicht einmal einen richtigen Schlafplatz hatten, normale Menschen, hier hatte jeder die gleichen Rechte, die gleichen Chancen.

Hier war ich nicht die Tochter einer Berühmtheit.

Hier war ich nur ich selbst.

Wie es mir auf die Nerven ging.

Egal wo man war, jeder kannte einen, jeder wollte einen anfassen, umarmen, ein Foto machen, um es nachher auf Instagram zu posten und damit angeben zu können, die Tochter von Billie Joe Armstrong umarmt zu haben.

Ich versteh die Fans ja.

Wahrscheinlich wäre ich ganz genauso.

Und trotzdem ändert es nichts daran, dass es mich nervt.

Doch hier war ich... wer ich wirklich war.

Josina Lilith Armstrong.

Ach, lasst das Armstrong doch mal weg - Josie, fünfzehn Jahre alt, blonde Haare, die aber grün gefärbt waren, grüne Augen, Lippenpiercing und viele Ohrpiercings, ein Tattoo in Form eines Notenschlüssels hinter dem rechten Ohr und nie ohne Springerstiefel anzutreffen.

Dazu muss man sagen, dass alles, was ich an meinem Körper verändert hatte, illegal war, da meine lieben Eltern das eigentlich nicht erlaubt hatten (obwohl Dad selbst einen Nasenring und mehrere Ohrpiercings hatte und sich sein Leben lang die Haare färbt und außerdem von oben bis unten tätowiert ist?! Und Mom genauso?! Wenigstens ist mein Tattoo nicht ein Name irgendeiner Person! Gott, so was dämliches kann auch nur denen einfallen! Was wenn sie sich irgendwann scheiden lassen?! Was ist dann?!).

Okay, das war jetzt vielleicht ein wenig gemein.

Ich liebte meine Eltern über alles und ich würde es nicht aushalten, wenn sie sich scheiden lassen würden.

Abgesehen von Billie und Adrienne waren da auch noch meine beiden Brüder Jakob und Joseph.

Joseph war sechzehn, Jakob dreizehneinhalb.

Und ich war schön in der Mitte.

Klasse Mann.

Das Sandwich Kind.

Jakob ist immer der kleine süße Jake, der alles bekommt, und Joey der ach so erwachsene der alles tun und lassen darf und es geht mir so wahnsinnig auf den Keks.

Das war dann auch der Grund, wieso ich mich mit zwölf Jahren eigentlich schon von dieser Familie entfernt hatte, ich hatte mich verändert.

Ich hatte einfach so wenig das Gefühl dazuzugehören, weshalb ich einfach nicht mehr ausgehalten hatte.

Klar, Mom hatte es wahnsinnig schwer sich um drei Kinder gleichzeitig zu kümmern und jedem Aufmerksamkeit zu schenken und zusätzlich noch den Haushalt zu schmeißen.

Von Dad brauchen wir gar nicht reden, der war eh immer auf Tour oder nur in seinem beschissenen Studio.

Hört sich das schön an?

Nein.

Seit froh, dass ihr normale Eltern habt, auch wenn ihr euch wünscht, oder euch auf jeden Fall mal gewünscht habt, dass Billie Joe euer Vater ist. Ich kenn doch die Wünsche von Dads Fans.

Naja, egal, jedenfalls dachte ich mir, je weniger ich da bin, desto weniger geh ich irgendwem auf die Nerven.

Und eigentlich klappte das auch ganz gut, bis heute noch.

Ich kam nach der Schule immer seltener nach Hause, dann irgendwann gar nicht mehr.

Ich hing bis spät Abends mit meinen Freunden und den Leuten unter der Brücke herum und es gefiel mir.

Ich freundete mich immer mehr mit dem Leben auf der Straße an.

Und trotzdem schätzte ich mein Bett in unserer kleinen Villa sehr.

Aber hier wurde es nicht langweilig.

Außerdem lernte man immer wieder neue Leute kennen, Leute aus anderen Ländern, Leute aus anderen Kulturen, mit verschiedenen Meinungen, Leute die schon sehr viel gesehen und miterlebt hatten. Leute, die seit Jahren auf der Straße lebten.

Genau wie ein enger Kumpel von mir, Sunny.

Niemand hatte je seinen richtigen Namen erfahren.

Nicht einmal ich, obwohl er mir immer sehr viel anvertraut hatte.

Sunny war letztes Jahr im Sommer an einer Überdosis Heroin gestorben.

Ich habe es gesehen.

Es war sehr, sehr schlimm gewesen.

So richtig drüber hinweg gekommen war ich immer noch nicht.

Ich hatte es aber nie jemandem erzählt.

Zu groß war die Angst gewesen, dass ich mich nicht mehr mit meinen Freunden treffen durfte, nur noch im Haus hocken musste.

Außerdem hätte ich es niemals geschafft, mit irgendwem darüber zu sprechen.

Und obwohl ich meine Familie liebte - sie wurde mir einfach von Tag zu Tag fremder.

Dass das aber bald eine Wendung habe würde, ahnte ich in diesem Moment noch nicht.

Ein letztes mal zog ich an meiner Kippe, dann warf ich sie auf den dreckigen Boden, stand auf und ging.

Ich ging vorbei an meinen Freunden, hob kurz die Hand, dann setzte ich meinen Weg fort.

Je näher ich dem Haus kam, desto schlechter wurde meine Laune.

Wütend trat ich nach einem Stein.

Ich will nicht nach Hause.

Loss Of ControlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt