Kapitel 1

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Valyr zog den Kopf ein, als er durch das versammelte Rudel zu ihrem Alpha gerufen wurde. Dank seines guten Gehörs, das er seinen Wolfssinnen verdankte, verpasste er auch keines der geflüsterten Worte. „Was hat das schwarze Schaf denn nun schon wieder angestellt?", „Was hat der Idiot denn dieses Mal ausgefressen", und „Eine Schande so etwas Wolf zu nennen". Valyr hörte es alles. Es war, als hätte die Natur ihn mit einem besonders sensiblen Gehört ausgestattet, nur damit ihm nichts davon entging. Er hatte sich eingeredet, sich langsam an den Spott gewöhnt zu haben, doch es schmerzte jedes Mal aufs Neue. Er trat gebückt vor Lennyr, den Alpha ihres Rudels. Vengaren, sein Beta, stand zu seiner Rechten. Sie waren beide in Menschengestalt. Lennyrs missbilligender Blick musterte Valyr, als wäre er eine Ware, die sich am Ende als nicht seinen Vorstellungen entsprechend herausgestellt hatte.

„Valyr."

„Vater."

Lennyrs Augen verengten sich zu Schlitzen, als wollte der Alpha nicht daran erinnert werden, je einen Sohn gezeugt zu haben, der wie Valyr war.

„Vor dem Rudel wirst du mich als Alpha ansprechen, Valyr."

„Ja, Alpha Lennyr."

„Weißt du, warum du heute zu mir gerufen worden bist?"

„Nein, Alpha Lennyr."

Ein erneuter missbilligender Blick.

„Ist es nicht so, dass du gestern Nacht Wachdienst hattest?"

Valyr schluckte. Oh-oh.

„...Ja, Alpha Lennyr."

„Und kannst du dir nun vorstellen, was ich dir vorzuwerfen habe?"

„Ja, Alpha Lennyr. Ich habe es vergessen."

Lennyr knurrte wütend.

„Vergessen."

„Ja, Alpha Lennyr."

„Dann lass mich dich etwas fragen. Was passiert, wenn das Rudel nachts unbewacht und hilflos schläft?"

Valyr schwieg.

„Antworte!"

„Wir... wir könnten von den Vampiren angegriffen werden, und sie könnten uns im Schlaf überraschen, bevor wir uns verwandeln können."

„Und angesichts dieser Gefahr, hältst du es für entschuldbar, dass wir gestern dank deiner Vergesslichkeit ungeschützt und hilflos schliefen?"

„... Nein, Alpha Valyr."

„Nein. Das ist richtig. Und welche Strafe siehst du für dieses unentschuldbare Verhalten als angemessen?"

Valyr schwieg erneut.

„Valyr!"

„Ja, Alpha Lennyr." Valyr dachte zurück an seine bisherigen „Straftaten" und Bestrafungen, und verglich. „Ich halte 20 Streiche für eine angemessene Strafe", murmelte er dann niedergeschlagen.

Lennyr betrachtete ihn aus zu Schlitzen verengten Augen.

„20 Streiche wären eine angemessene Strafe, wäre dies das erste Mal, dass deine Dummheit unser Rudel in Gefahr brächte. Doch da du aus deinen bisherigen Fehlern nicht zu lernen scheinst, müssen wir wohl zu härteren Mitteln greifen."

Er wandte sich an das Rudel.

„Für das Vergehen der Pflichtverletzung, und für wiederholtes Auffälligwerden, verurteile ich Valyr zu 40 Streichen." Valyr riss entsetzt die Augen auf, doch Lennyr war noch nicht fertig. „Außerdem wird Valyr anschließend für sieben Tage den Ring der Pein tragen."

Valyr wich das Blut aus dem Gesicht. 40 Streiche war eine der höchsten Strafen, die seit langer Zeit vergeben wurde. Valyr hatte schon die 20 gefürchtet... Und dann auch noch den Ring der Pein... Seine Wunden würden wie die eines Menschen heilen, da das Halsband, bekannt als Ring der Pein, ihn daran hinderte, zum Wolf zu werden. Vengaren und ein weiterer Wolf packten Valyr an den Armen und führten ihn zum Baum der Buße. Der Baum der Buße war kein bestimmter Baum, er war nur symbolisch. Für gewöhnlich suchte sich das Rudel einen Baum aus, der halbwegs abseits stand und Äste in der benötigten Höhe besaß. Von einem der Äste baumelten breite Lederbänder, die man nun um Valyrs Handgelenke schlang, sodass seine Füße gerade noch den Boden berührten. Sein Leinenhemd hatte man ihm zuvor ausgezogen. Er atmete tief durch, und bereitete sich auf das, was geschehen würde, vor. Er war nicht das erste Mal an diesen Ast gebunden, und es würde vermutlich auch nicht das letzte Mal sein, vorausgesetzt er überlebte diese 40 Streiche. Sein Vater selbst trat hinter ihn, die lederne Peitsche in den Händen.

Valyrs Vater hob den Arm, und Valyr schloss die Augen.

In ihrem Rudel galt es als Schande, während einer Bestrafung Laute von sich zu geben. Valyr biss sich die Lippe blutig und kämpfte die Schreie herunter, die sich in seinem Hals bildeten. Er meisterte die Zurückhaltung bis weit über die Hälfte der Streiche, auch als das gestärkte Leder seine Haut aufriss, und das warme Blut über seinen Rücken rann. Doch ab einem bestimmten Punkt konnte er nicht mehr schweigen. Er würde ihnen nicht die Genugtuung geben zu betteln, doch er konnte nicht mehr still sein. Er stöhnte; und als der nächste Hieb traf, schrie er auf. Ein Murren ging durch die Menge. „Nicht einmal seine Strafe ertragen kann er wie ein wahrer Wolf."

Noch 9 Streiche musste er ertragen. Er durfte nicht ohnmächtig werden, denn dann würde er die verbleibenden Streiche plus 10 Weitere als Strafe dafür zu einem anderen Zeitpunkt bekommen. Er kämpfte gegen die Schwärze an, die seine Sinne umnebelte. Seine Augen fielen zu, und er riss sie sofort wieder auf. Zumindest wollte er das tun, doch seine Augenlider gehorchten ihm nicht. Mit Panik registrierte er, wie sein Geist hinabglitt in die wohltuende Kälte der Bewusstlosigkeit.

Als Valyr erwachte, war es Nacht. Bei dem Versuch sich zu bewegen schnitt ein scharfer Schmerz seinen Rücken hinab und er spürte, wie die Wunden aufbrachen und zu bluten begannen. Stöhnend sackte er zurück zu Boden. Sie hatten ihm den Ring der Pein bereits angelegt, und an ihm war eine Art Leine befestigt, die ihn an den Baum der Buße band. Er sehnte sich danach, in die starke Form seines Wolfes zu wechseln. Seine Instinkte drängten ihn dazu, doch das Halsband würde es nicht zulassen. Mit einem Seufzen versuchte er den Schmerz zu verdrängen und erneut zur Ruhe zu kommen. Für die Wiederaufnahme seiner Bestrafung würde er jede Kraft brauchen, die er kriegen konnte. So wie Valyr sich im Moment fühlte, war er sich nicht sicher, ob er den Rest der Strafe überstehen würde. Er spürte das sanfte Licht des Mondes auf seiner geschundenen Haut, auch wenn er auf dem Bauch lag und nicht emporblicken konnte. Er versuchte Trost in dessen sanftem Licht zu finden, doch es wollte ihm nicht so Recht gelingen. Wieso geschahen diese Dinge immer nur ihm? Sicher, er hatte Fehler begangen, doch konnte er etwas dafür, dass er von Natur aus zu klein, zu schlaksig, zu ungeschickt war? Er unterbrach seine Gedanken, als er etwas im Unterholz hörte.

Da war es wieder, ein Rascheln. Valyr schnupperte, doch er konnte keinen Wildgeruch aufnehmen. Das konnte nur eines heißen...

...Vampire!

Alarmiert blickte er zu ihrem Wachposten, der auf einem Felsen etwas abseits saß. Er hatte die Eindringlinge nicht bemerkt! Valyr zögerte für eine Sekunde. Der Gedanke, seinem Rudel abtrünnig zu werden, kam für einen Moment auf. Doch trotz all der Feindseligkeit, die sie ihm entgegenbrachten, waren sie dennoch seine Familie. Er holte unter Schmerzen tief Luft, um zu schreien.

„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun", erklang plötzlich eine Stimme von seiner Seite. Valyr blickte mühsam auf, und ein hellhäutiger, schwarzhaariger Mann blickte auf ihn herab. Seine weißen Fangzähne glänzten im Mondlicht.

Ein Vampir.

Valyr schloss die Augen. Nun war es sowieso um ihm geschehen. Hier angekettet und nicht in der Lage in seine Wolfsgestalt zu wechseln hatte Valyr gegen einen ausgewachsenen Vampir in etwa die Chance eines Neugeboren gegen einen Güterzug.

Positiv gesehen, wenn es ihm gelang sein Rudel zu warnen, auch wenn er dabei starb, würde er vielleicht wenigstens ein einziges Mal die Gutheißung seines Vaters erlangen. So laut er konnte schrie er Alarm, doch der Vampir trat mit einem „tsk" zu ihm heran und hob die Faust. Valyr sank in die Dunkelheit. Sein letzter Gedanke galt seinem Rudel, und ob sie die Eindringlinge noch rechtzeitig bemerkt hatten.

Against His Nature [manXman] #CWCWo Geschichten leben. Entdecke jetzt