2. Heiße Quellen, kühle Herzen

436 19 1
                                    

Nach weiteren dreieinhalb Stunden Fahrt hatten sie ihr Ausflugsziel in den bayrischen Alpen beinah erreicht. Sie waren um halb 9 Uhr morgens endlich vom Schulgelände weggekommen und jetzt war es bereits nach 4 Uhr nachmittags, da sie auf der Höhe Nürnberg eine Weile im Stau standen. Die meisten Schüler, darunter auch Yuuki, waren eingeschlafen und es war still im Bus. Nanae hatte sich in ihrem Sitz zusammengerollt, die Knie gegen den Vordersitz gestemmt und ihr Skizzenbuch vor sich. Sie hatte in der letzten Stunde einen in voller Blüte stehenden Baum in das Buch skizziert und war nun gerade dabei, eine Gestalt dazu zu zeichnen, die sich an den Baum lehnte und die Hände in den Taschen hatte. Es war eine männliche Gestalt und Nanae bekam immer mehr das Gefühl, dass sie diese Gestalt kannte. Sie klappte das Buch zu.
Das konnte doch nicht wahr sein!
Sie hatte Castiel in ihr heiliges Skizzenbuch gezeichnet, wo noch nicht einmal ihre ALLERBESTE Freundin auch nur einen Satz hineinschreiben durfte. Er hatte sich frech hineingeschlichen in ihren Kopf und so über ihre Hand in ihr Buch. Nanae legte gefrustet den Kopf an das Kopfteil ihres Sitzes und schloss die Augen.
Wann waren sie nur endlich da? Sie spürte langsam ihren Hintern nicht mehr und ihre Beine waren taub geworden. Yuuki machte ein leises Geräusch im Schlaf und auch Nanae ließ ihre Augen geschlossen. Sie war beinahe weggenickt, als ihr Klassenlehrer über die Lautsprecheranlage des Busses verkündete, dass sie in wenigen Minuten auf dem Gelände des Kurhotels ankommen würden und dass doch bitte alle wieder wach werden sollten, da sich das Gepäck nicht von allein trage. Nanae leckte sich über ihre trockenen Lippen und setzte sich aufrecht hin. Ihre Beine fingen tatsächlich sofort an zu kribbeln und wurden taub. Sie zweifelte, ob sie überhaupt würde aufstehen können. Der Reisebus hielt und alle grabschten eilig nach ihren Habseligkeiten, die auf den Sitzen oder den Ablagetischchen verstreut lagen. Der Geräuschpegel stieg in Sekunden wieder auf beinahe unerträgliches Maß an und Nanae war froh, dass alle nach und nach alle ins Freie tröpfelten. „Was ist, Nanae, willst du hier bleiben?" fragte Yuuki verwundert. Nanae schüttelte den Kopf. „Nein, aber meine Beine sind eingeschlafen, ich kann nicht aufstehen. Geh schon vor, ich komme sofort."
Yuuki lächelte und krabbelte geschickt über Nanaes Knie. Nanae saß noch immer und versuchte, mit Zehenwackeln ihre tauben Füße wieder zum Leben zu erwecken, als Castiel an ihr vorbeiging und sie bei der Hand packte. Er zog sie hoch und hielt sie fest, damit sie nicht zusammensackte. „Wa...?", bekam Nanae nur heraus.
„Du solltest hier nicht noch länger sitzen, sonst schließen sie dich ein, Nana." Er roch nach Kaugummi. Nanae versuchte, ihre Beine zu belasten und sie knickten tatsächlich nicht ein. „Meine Beine waren eingeschlafen.", sagte sie und wand ihre Hand aus Castiels Griff. Sie griff nach ihrem Rucksack und nach dem Skizzenbuch, das auf dem Tischchen auf Yuukis Seite lag. „Das habe ich gesehen. Wie kann man denn so sitzen, so verklemmt zwischen zwei Sitzen, fast mit den Knien im Maul." Castiel schüttelte den Kopf. Nanae schob ihn zur Seite. „Erstens habe ich einen Mund und kein Maul und zweitens glaube ich, das jemand, der so lange Beine hat wie du, so nicht sitzen kann." Sie stieg aus dem Bus und Castiel folgte ihr mit einem Grinsen, so arrogant wie immer. Bevor Nanae sich auf die Suche nach Yuuki machen konnte, griff Castiel noch mal nach ihrer Hand. „Hey. Glaubst du, wir können uns sehen, solange wir hier sind?" Seine schönen braunen Augen bekamen einen sanfteren Ausdruck. Nanae lächelte. Manchmal war dieser stolze Kerl anhänglich wie ein Kind. „Wie stellst du dir das vor? Wir stehen hier ständig unter Beobachtung."
„Lass mich das nur machen. Ich will nur nicht eine ganze Woche nur mit Idioten und Blindgängern wie Nathaniel oder Kentin abhängen. Lysander hat sich ja gedrückt."
Er wollte also lieber mit ihr Zeit verbringen? Klar, er bekam ja meistens auch das, was er wollte. Nanae zuckte die Schultern. „Mal schauen, was sich ergibt, oder?" Castiel nickte. Er sah sich nach rechts und links um und küsste sie kurz und intensiv, bevor er an ihr vorbeiging, um seine Tasche zu holen. Nanae holte tief Luft. Irgendwann würde sie einen Herzinfarkt bekommen, und das mit gerade 17 Jahren. Sie folgte Castiel mit Abstand hinter dem Bus hervor, holte ihre eigene Tasche und suchte Yuuki, die sie müde auf ihrem Koffer sitzen sah. „Was geht denn hier, dass alle warten?"
Yuuki gähnte. „Der Bohner checkt uns alle gerade ein und dann dürfen wir unsere Zimmer beziehen. Ich hoffe nur, es sind nur wir beide in einem. Wo warst du eigentlich solange?"
Nanae hasste es, wenn Yuuki das fragte. Sie ließ sie häufiger wegen Castiel etwas warten und musste sich dann immer ausdenken, warum. Sie und Castiel hatten schließlich vor einen halben Jahr beschlossen, dass sie das lockere Ding, was sie am Laufen hatten, niemandem sagen wollten und daran wollte sich Nanae auch gegenüber Yuuki halten. Zum Einen wegen Nanaes verrückter Mutter, die sie am Ende deswegen wirklich noch in ein Internat stecken würde und zum Zweiten, weil Castiel nicht wollte, dass ihn alle für einen netten Kuschel-Boyfriend hielten. Und Yuuki konnte Castiel sowieso nicht leiden und würde das Nanae in jeder Sekunde spüren lassen. „Ich wäre fast über meinen Schnürsenkel gestolpert und aus dem Bus gefallen, ich musste meine Schuhe binden." Yuuki nickte.
Der Klassenlehrer Herr Bohner, ein Mann, der wirklich an eine Bohnenstange erinnerte, rief die Klasse zu sich. „Ich habe uns jetzt angemeldet und wir bekommen unsere Zimmer. Der einzige Haken ist, dass es nur Fünf-Mann-Zimmer gibt. Also findet euch zusammen oder ich bestimme, wer wo mit im Zimmer landet."
Ein Getuschel und Grüppchenbilden begann, bis beinahe alle sich gefunden hatten. Einzig Amber und ihre Anhängsel, Nanae und Yuuki und Castiel blieben ohne komplette Gruppe. Der Bohner sah zu ihnen hin. „Seit ihr nicht in der Lage, euch zu finden? Ihr Mädels seid doch zusammen fünf, also in ein Zimmer!" Nanae sah mit Schrecken zu Yuuki. Sie sollten EINE WOCHE in EIN Zimmer mit AMBER? Nanae hatte plötzlich keine Lust mehr auf die Klassenfahrt. „Und du, Castiel, gehst zu Nathaniel und Ken. Das ist doch nicht so schwer. Und ihr wollt mir erwachsen sein?!" Der Bohner schüttelte den Kopf. Nanae fühlte unangenehmen Druck im Magen und Castiel blickte drein, als hätte man ihm eben gesagt, jemand hätte seine geliebte Gitarre zerstört, sparte sich allerdings seine berüchtigten Widerworte.
Herr Bohner klatschte in die Hände und seine Schüler griffen nach ihren Taschen. „Dann lasst uns gehen und die Zimmer beziehen, damit wir noch etwas vom Tag haben." Seine müde Schülerschaft schlurfte hinter ihm hinterher. Nanae ließ sich mit Yuuki etwas nach hinten fallen. Yuuki seufzte. „Hast du auch keine Lust mehr hier drauf? Wie sollen wir es nur aushalten, Ambers Allüren ertragen zu müssen?"
Castiel drängte sich an den beiden Mädchen vorbei, wobei er Nanaes Schulter mit seiner berührte. „Sperrt sie doch in den Schrank!", sagte er als Antwort auf Yuukis Frage und entfernte sich von den Beiden, um sich widerwillig Nathaniel und Kentin anzuschließen. Yuuki engte ihre Augen zu Schlitzen zusammen. „Die Idee ist nicht mal schlecht! Ich werd's mir merken." Widerstrebend stiegen Yuuki und Nanae die Treppen hinauf und betraten das Zimmer, das Herr Bohner ihnen und der Amber-Crew zuwies. Sie waren kaum drin, begann der Allüren-Terror auch schon. Das Zimmer hatte zwei Doppelstockbetten und ein schmales Einzelbett. Außerdem stand an der Wand vor dem großen Fenster ein großer Tisch und fünf Stühle. Zwei breitere und ein schmaler Kleiderschrank vervollständigten das Mobiliar. Das Zimmer hatte ebenfalls ein breites Waschbecken mit mehreren Wasserhähnen und einem Spiegel mitsamt großzügiger Ablage für Waschzeug und Zahnbürsten. Ohne zu fragen, schmiss Amber ihren pinkfarbenen Minikoffer auf das Einzelbett und ging wie selbstverständlich davon aus, dass die anderen in den Stockbetten schliefen. „Diese Zimmer sind vielleicht eine Zumutung. Hier ist es voll dreckig und es stinkt. Das soll ein KURHOTEL sein? Und wo bitte soll ich auf diesem kleinen Waschbecken mein ganzes Zeug aufstellen?" Ihre Freundinnen nickten und sahen sich ebenfalls mit gerümpften Nasen um. Yuuki und Nanae besetzten das Stockbett neben der Tür und begannen wortlos, ihre Bettwäsche auszupacken und das Bettzeug zu beziehen. Yuuki würde oben schlafen, da Nanae Höhenangst hatte und selbst ein Stuhl für sie bereits eine Zumutung war. Amber hielt es nicht in dem Zimmer. Sie dachte nicht einmal daran, erstmal ihr Bett herzurichten und das Wichtigste auszupacken, sondern verließ mit ihren Anhängseln den Raum. „Lasst uns mal sehen, ob mein Brüderchen auch so ein mieses Zimmer hat." Sie knallten die Tür.
Yuuki warf von ihrem Bett aus einen Blick auf Nanae hinunter. „Klar, sie interessiert sich für Nathaniels Zimmer!" Yuuki machte Gänsefüßchen mit den Fingern. „Die will Castiel bestalken." Sie schmiss sich in ihr Kissen, das sie extra von zuhause mitgebracht hatte. „Was wollen und finden die nur alle an dem? Sind es seine Haare?"
Nanae lachte leise. „Frauen stehen auf Arschlöcher, Yuuki."
„Na ich tue das nicht. Diesen Krampf mit den Launen muss ich mir nicht geben und am Ende ist der wegen irgendwas in seinem Ego so gekränkt, dass man sich noch eine fängt. Nee, ich lob mir Männer wie Nathaniel oder Lysander, die höflich und gut erzogen sind und wissen, wie man mit einer Frau redet!"
Nanae grinste vor sich hin. Yuuki vergaß zu gerne, das Lysander Castiels bester Freund und bei Weitem nicht so harmlos war, wie sie es sich gerne einredete. „Du hast Ken vergessen!", giggelte sie. Yuuki setzte sich wieder auf. „Mach dich ruhig lustig, aber ich habe ihn vor ein paar Tagen mal ohne seine Brille gesehen. Eigentlich ist er optisch gar nicht so übel, er müsste nur etwas an seiner Kleidung verändern."
Nanae lächelte. Das wusste sie doch. Ken war ein toller Kerl und auch ein Hübscher, wenn er nur wollte. Aber für sie musste ein Mann mehr sein als nur nett. Sie seufzte und setzte sich auf ihr frisch bezogenes Bett.
Sie hatten sich in der Klasse vorgenommen, am ersten Abend im Hotel in die nahegelegene Stadt in ein Restaurant zum Essen zu gehen. Nanae sah auf ihre Armbanduhr. Es war fast halb 6 und sie war total müde. Eigentlich hatte sie gar keine Lust auf einen zwanzigminütigen Fußmarsch, sondern wollte lieber ihre Ruhe haben. Sie waren auf Klassenfahrt in ein Kurhotel gefahren, das für seine schönen Heißquellen bekannt war und sie hatte mehr Lust darauf, die Thermalbecken auszuprobieren. „Das ist vielleicht ein Mist, dass wir ausgerechnet die drei ins Zimmer bekommen haben. Wir hätten, um das zu verhindern, gleich mit Viola und den anderen bequatschen sollen, dass wir zusammen in ein Zimmer gehen. Kacke!", fluchte Yuuki auf ihrer Etage vor sich hin. „Und am meisten freue ich mich doch jetzt schon darauf, dass jedes zweite Wort von Amber entweder Schuhe, Makeup oder Castiel sein wird." Nanae blickte auf die Matratze über ihrem Kopf und biss sich auf die Lippen. Das müsste sie auch nicht unbedingt haben. „Ich frage mich oft, ob nicht doch mal was zwischen den beiden gelaufen ist. Wie kann man sonst nur so fixiert auf jemanden sein?" Nanae drehte sich auf die Seite und seufzte. „Können wir das Thema wechseln? Am Ende muss ich glauben, dass du dich doch mehr für ihn interessierst, als du zugeben willst."
Von Yuuki kam ein Schnauben, das jeden Hengst neidisch gemacht hätte. „Never, EVER!"
Nanae lachte und stemmte ihre Füße gegen die Matratze, um Yuuki etwas in ihrem Bett hüpfen zu lassen. Die Beiden lachten ausgelassen, als die Tür wieder aufging und die Amber-Crew wieder hineinstolzierte. „Gott, sind wir hier im Kindergarten gelandet?", sagte Amber hochnäsig. Sie stolzierte, mit dem Hintern wackelnd, zu ihrem Bett und Nanae fragte sich, für wen in diesem Zimmer sie diesen albernen Entengang eigentlich aufführte. Yuuki kletterte vom Bett und zog Nanae an der Hand aus ihrem Bett. „Komm, wir gehen mal die Bäder ansehen. Wir wollen die alten Schachteln hier nicht noch belästigen, wenn die nicht mal ein bisschen Lachen ertragen können." Nanae atmete erleichtert auf, als sie und Yuuki im Thermalbereich der Hotelanlage standen. Hier war es ruhig und irgendwo gluckerte und plätscherte leise und beruhigend Wasser. Es war saumäßig kalt draußen und über den natürlichen Quellen und beheizten Schwimmbecken stand der Dunst. „Es reizt mich, jetzt sofort da rein zugehen.", sagte Yuuki und Nanae stimmte ihr zu. Aber zuerst würden sie das Abendessen in der nahegelegenen Stadt mit dem gesamten Jahrgang hinter sich bringen müssen, denn es war ja alles für sie reserviert. Nanae seufzte. Durch den Zusammenwurf mit der Amber-Crew wurde die Anwesenheit in diesem Kurhotel zu einer Tortur und sie wünschte sich weit weg zu ihrem Vater. Sie konnte es nicht den ganzen Tag ertragen, Amber davon reden zu hören, was sie mit Castiel anstellen wollte und was er, angeblich, zu ihr gesagt oder mit ihr gemacht hatte. Irgendwie konnte sich Nanae schon vorstellen, dass er wenigstens einmal schwach geworden war und sie in sein Bett genommen hatte, immerhin war er ein Jahr älter als sie und Amber stand wohl schon seit der siebten Klasse auf ihn. Sie war furchtbar besitzergreifend und Nanae wollte sich keine näheren Gedanken darüber machen, was ihr von der Furie blühte, sollte sie je von ihrer Affäre mit Castiel Wind bekommen. Nanae seufzte. Warum war das so kompliziert? Hatten Castiel und sie sich nicht damals für diese Art des Zusammenseins entschieden, weil es alles für jeden offenhält? Sie führten keine Beziehung, sie liebten einander nicht und waren frei, dass zu tun, was sie wollten, wenn sie es wollten. Sie wollten es unkompliziert halten, aber mittlerweile kannte Nanae Castiel besser als jeder andere in der Klasse, mit Ausnahme von Lysander vielleicht. Deshalb fiel es ihr nicht mehr so leicht wie am Anfang, einfach über das Gerede hinwegzusehen. Sie wollte immer Einwände erheben, wenn Amber eine Vermutung über Castiels „wahren" Charakter, wie sie es nannte, anstellte. Denn Nanae kannte Castiels wahren Charakter, der so anders war als das, was er in der Schule zeigte. „Was seufzt du so schwer?" Yuukis Stimme holte Nanae aus ihren Gedanken. „Ich bin müde und mein Po tut weh vom langen Sitzen. Ich will nur noch ins Bett."

Kirschblüten im Winter [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt