11. Der Winterball

356 19 1
                                    

Freitag morgen. Mies gelaunt lehnte Castiel an seiner üblichen Stelle in einer Ecke des Schulhofes und rauchte eine Zigarette. Es war kalt und hatte über Nacht wieder geschneit. Für ihn war das mittlerweile genug Winter. Er hatte die Nase voll von dem grauen Himmel, der immer mehr von diesen lästigen kleinen Dingern ausspuckte und ihn an eine bestimmte Nacht im Wald vor einigen Wochen erinnerten. Er warf den Zigarettenstummel weg und spuckte aus. Er hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge, der nicht von der Kippe kam. Seine Laune wurde – wenn das überhaupt noch möglich war – noch schlechter, als er die kleine Japanerin mit ihrem neuen Freund, diesem Hanswurst Ken, Hand in Hand vorbeigehen sah. Er hatte das Gefühl, diese Pärchen-Pest breitete sich zunehmend um ihn herum aus. Er lachte sich selbst aus.
Schwachsinn! Du hast vorher nur nicht drauf geachtet, erinnerte er sich. Grimmig stellte er fest, dass sich das Mädchen, Yuuki hieß sie, von Ken löste und in seine Richtung marschiert kam, während der Brillenheini unschlüssig stehen blieb. Yuuki war noch nicht zum Stehen gekommen, da fuhr Castiel sie schon an:
„Was willst du?"
Sie ließ sich nicht beeindrucken und stemmte die Hände in die schmalen Hüften.
„Du bist ein Arschloch!"
„Sonst noch was?"
„Ich dachte, du magst Nanae?!"
„WAS WILLST DU?"
„Glaubst du, ich habe dir ihre neue Handynummer gegeben, damit du deinen SIM-Speicher schneller voll bekommst?"
Castiel zog die Stirn kraus. Yuuki realisierte, was Nanae in einem ihrer Briefe beschrieben hatte. Er sah gut aus, wenn er so aus der Wäsche guckte.
„Du hast dich in den drei Wochen nicht einmal gemeldet! Dann kann's ja nicht so wichtig sein, oder?"
Castiel sah sie nicht an. „Ich hab mein Handy geschrottet!"
Er hatte es an dem Abend, als er Nanaes SMS bekommen hatte, so heftig gegen die Wand geworfen, dass etwas abgebrochen war und das Gerät sich nicht mehr einschalten ließ.
„Sie ist doch freiwillig abgehauen. Wem da wohl was nicht wichtig ist... außerdem ist sie nicht meine Freundin!" fügte er trotzig hinzu.
Yuuki war nun wirklich überrascht. Was hatte Nanae ihm denn erzählt?
„Wenn du das glaubst, bist du nicht nur ein Arschloch, sondern auch ein Idiot! Nanae wollte nie auf ein Internat! Sie ist dort wegen DIR!" Es klingelte zum Unterricht und Yuuki wandte sich mit einem letzten Blick von ihm ab und ließ ihn stehen.
Castiel hingegen rührte sich kein Stück. Ihre Mutter hatte die Drohung also wahr gemacht! Warum war er da nicht drauf gekommen? Als er die SMS las, kam ihm das doch komisch vor. Er ließ sich auf die Fersen sinken und steckte sich eine weitere Zigarette an, die nicht schmeckte, weil er eigentlich keine mehr wollte. Aber seine Hände zitterten so sehr, dass er sie beschäftigen musste. Er schulterte seinen Rucksack und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg nach Hause.
Auf halben Wege stoppte er allerdings und rannte zur Schule zurück. Würde er jetzt zuhause sitzen, würde ihm die Decke auf den Kopf fallen und er würde garantiert irgendwelche Dummheiten machen. Außer Atem stieß er das Eingangsportal auf und setzte sich auf eine der Bänke, um Luft zu holen. Ein Kichern und Schnattern aus Richtung der Pausenhalle ließ ihn aufhorchen. Er richtete sich wieder auf und machte sich daran, seine Neugier zu befriedigen. Er entdeckte eine Handvoll 9.-Klässlerinnen, die kichernd und giggelnd vor der Pinnwand des Vertretungsplanes standen. Castiel trat an sie heran und ließ seine Faust gegen die Wand krachen. Mit einem Quietschen stoben die Mädchen auseinander und machten sich daran, Abstand zu ihm einzunehmen. Castiel grinste süffisant. Diese Mädchen waren alle ein ganzes Ende kleiner als er und hatten einen Heidenrespekt vor ihn oder machten sich fast ein, weil sie heimlich in ihn verknallt waren. Er hatte aufgehört, die Zettelchen zu zählen oder gar zu sammeln, die er jeden Tag aus seinem Spind räumen musste, weil Mädchen sie durch die Ritzen hineingestopft hatten. Aber er las sie. Las und lachte.
Nun wandte er seine Aufmerksamkeit dem Plan zu. Aber das war es nicht, was die Mädchen so amüsiert hatte. Neben den Vertretungslisten hing die Kopie einer Zeichnung, die eindeutig ihn zeigte. Nanae hatte es mit ihrer Signatur versehen. „Kirschblüten im Winter" stand als Titel darunter. Er presste die Augen zu Schlitzen zusammen. Kirschblüten? Hatte Nana das nicht in der Nacht im Wald gesagt? Er betrachtete das Bild genauer und bemerkte, dass sie Schneeflocken in seine Haare gezeichnet hatte. Hatte sie das gemeint? Er bemerkte noch etwas anderes. Mit einem dicken roten Marker war etwas an den Rand des Bildes geschmiert worden.
„Nanae Ashmore liebt Castiel Poulain!"
Castiel biss den Kiefer fest zusammen. Er kannte diese alberne Handschrift mit den Herzchen als i-Punkt. Er hatte oft genug Liebesbriefchen dieser Person wegwerfen müssen. Mit einer Handbewegung riss er das Bild von der Wand und griff sich eins der jüngeren Mädchen, die noch immer im Weg herumstanden.
„Gibt es davon noch mehr?" knurrte er und sie beeilte sich zu nicken und ihm zu sagen, wo. Mit einer Wut im Bauch machte er sich daran, diese Bilder einzusammeln. Nach einer großen Runde durch die Schule und einer Handvoll schöner Zeichnungen mit blöden Schmierereien wandte er sich in Richtung des Zimmers, in dem der Klugscheißer immer rumhing. Darum hatte schön er sich zu kümmern, bevor Castiel sich noch in größere Schwierigkeiten brachte. Ohne zu klopfen riss er die Tür auf.
Nathaniel saß an seinem Tisch wie vom Donner gerührt und kreidebleich vor Schreck.
„Hast du die hier heute morgen nicht bemerkt?!" polterte Castiel und warf den Stapel Blätter auf Nathaniels Mathehefter. Dieser wischte sich über das Gesicht und schluckte. Sein Herz raste noch immer schmerzhaft. Schließlich machte er sich daran, das Papier, das Castiel hier und da zerknüllt hatte, zu glätten. Mit jedem Bild wurde es Nathaniel bewusster, das Nanae sich niemals für ihn interessiert hatte oder es tun würde. Die Bilder waren romantisch verklärt und zeigten alle den rothaarigen und vor Wut schnaubenden Jungen, den er vor sich hatte. Und auf jedem Bild stand ein gemeiner Spruch.
„'Nanae Ashmore fickt mit Castiel Poulain'? Ach, ist das so?" murmelte der Schulsprecher. Castiel schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Und wenn's so ist? Es ist deine Aufgabe, das so eine Scheiße nicht öffentlich rumhängt!"
Nathaniel lehnte sich an seinen Stuhl. „Ich würde das für einen Scherz halten, den auch du fertigbringen würdest."
Castiel lachte auf. „Würde ich dann meinen eigenen Namen benutzen? Hier werden Nana UND ich fertiggemacht. Mir ist es egal, sollen sie doch denken, was sie wollen, aber Nana kann sich nicht verteidigen!"
„Hast du die Bilder alle abgenommen?"
„In der Schule habe ich keine weiter gefunden, aber ich war nicht auf den Mädchentoiletten und natürlich nicht in der Sporthalle. Wir beide wissen, dass Amber dahinter steckt, oder? Nimm ihr die Bilder ab, damit sie das nicht nochmal macht. Denn wenn du es nicht tust, werde ich es tun! Und ob dir gefällt, was ich dann mit ihr mache..."
Nathaniel seufzte müde. „Hört das denn niemals auf mit ihr?!" sagte er mehr zu sich selbst.
„Tu was, oder ich nutze mein Recht, mich beim Direx über sie zu beschweren! Das grenzt an Stalking. Und nennt man sowas da..." Castiel deutete auf das Bild mit dem F-Wort. „...nicht Verleumdung? Nana könnte sie wegen Mobbing anzeigen."
Nathaniels Augen blitzen leicht. Der Rothaarige hatte Recht, aber wenn Amber Ärger mit dem Direktor bekam, bekam er ihn zuhause von seinen Eltern.
„Erstaunlich, dass du so darüber redest, was Nanae alles tun könnte. Du hast doch keinen Kontakt mehr zu ihr, dachte ich?"
Castiel presste die Lippen zusammen. Der Klugscheißer wusste das auch? Er ging in Abwehrhaltung.
„Und wenn schon. Wenn du schon nichts tust, um das zu verhindern, dann tue ich es eben!"
Er packte seinen Rucksack fester, grabschte nach einem der Blätter und verließ das Zimmer mit einem Krachen der Tür.
Nathaniel sah sich die Bilder noch ein weiteres Mal an. Einige davon mussten auf der Klassenfahrt entstanden sein und wirkten sehr vertraut, ja manche beinahe intim. Als hätte Nanae gesehen, was sie da gezeichnet hatte und es nicht aus ihrer Fantasie erdacht. Der blonde Schulsprecher raffte die Blätter zusammen und warf sie in seine Schublade. Er konnte sie nicht mehr sehen. In seiner Erinnerung geisterte noch immer dieser kurze Moment herum, der Kuss unter dem Mistelzweig. Der glückliche Moment, dem die Erkenntnis nachfolgte, das sein größter Widersacher an der Schule das Mädchen hatte, das er, Nathaniel, haben wollte. Er packte seine Sachen zusammen und machte sich daran, Castiel zu folgen. Amber hatte gerade keinen Unterricht und trieb sich wahrscheinlich mit ihren Hühnern auf dem Schulhof herum. Und obwohl sie Strafe verdient hatte für die fiese Aktion, musste nicht erst Castiel ihr den Arsch aufreißen. Das war immer noch Nathaniels Aufgabe als älterer Bruder und Schulsprecher.

Kirschblüten im Winter [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt