4. Ruhige Tage?

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Es war erst 8 Uhr, als Nanae von lautem Lachen aus dem Schlaf gerissen wurde. Amber und ihre Mädels saßen an dem Tisch in der morgendlichen Wintersonne und blätterten in einer Mädchenzeitschrift. Offenbar lästerten sie gerade über eines der Models ab, jedenfalls amüsierten sie sich lautstark. Nanae setzte sich steif auf und streckte sich. Ihr Rücken knackte, sie hatte nicht gut gelegen. Sie kletterte umständlich aus dem Bett, murmelte ein „Morgen.", das von der Amber-Crew ignoriert wurde und trabte ans Waschbecken, um sich die Zähne zu putzen. Ihre nussbraunen, langen Haare waren wüst zerzaust und ihre lindgrünen Augen sahen irgendwie verquollen aus. Vielleicht war es doch nicht das Beste, eine Stunde mitten in der Nacht wach gewesen zu sein, denn sie fühlte sich gerädert, als hätte sie gar nicht geschlafen.
„Hey, Nanae, du hast auch schon mal besser ausgesehen!" tönte es von Yuukis Etage des Bettes.
„Ich fühle mich auch nicht gut. Mein Rücken tut weh und ich bin müde." Nanae stellte ihre Waschtasche auf das letzte bisschen Platz, das Amber gelassen hatte und tat sich Zahnpasta auf die Zahnbürste. Mit einem Seufzen putzte sie sich die Zähne und warf sich anschließend eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Nach dem Trockenrubbeln hatten ihre Wangen wieder etwas Farbe und ihre Augen sahen wacher aus. Sie trug noch immer ihre Kleider von gestern und stöberte nun nach etwas Frischen. Yuuki kletterte vom Bett und setzte sich neben sie.
„Hey, heute steht nichts an, wollen wir nicht erstmal in den Quellen baden, bevor du dir frische Sachen anziehst und wir zum Frühstück gehen? Dann fühlst du dich bestimmt besser." Nanae wollte antworten, als Amber dazwischenrief.
„An deinem Aussehen und deiner Figur allerdings wird alles Baden in Schönheitsquellen nichts ändern!" Sie und ihre Freundinnen lachten. Nanae schloss einen Moment die Augen.
„Weißt du, Amber, lieber bin ich rund um die Hüfte, als mager im Gehirn wie du!" Sie nickte Yuuki zu.
„Ja lass uns erst baden. Mein Rücken tut echt weh." Sie suchte flink nach ihrem großen Handtuch und ihrem Badeanzug und Yuuki tat es ihr gleich.
„Das du dich überhaupt traust, einen Badeanzug anzuziehen, bei deinem Hintern." ätzte Amber, als sie durch die Tür gingen.
„Dass du dich überhaupt traust, den Mund aufzumachen bei deiner Dummheit!" entgegnete Nanae und streckte ihr den Mittelfinger hin. Sie schloss die Tür lauter als nötig und Yuuki lachte vor sich hin.
„Guter Konter!"
Die beiden Mädchen huschten leise über die Flure und begaben sich in den Wellnessbereich. In den Kabinen herrschte Totenstille, es war noch niemand hier. Rasch zogen sie sich um, hüllten sich in ihre Handtücher und gingen nach draußen zu den Freiluftbecken. Über dem Wasser stand der Nebel.
„Schnell rein, es ist arschkalt." sagte Yuuki und tauchte einen Fuß in das Wasser. „Hmmm..." machte sie und stieg ganz hinein, nachdem sie ihr Handtuch am Rand abgelegt hatte. Nanae machte es ihr schnell nach. Sie merkte, wie sich, aufgrund des heißen Wassers, ihre Rückenschmerzen nach ein paar Schwimmzügen verflüchtigten.
„He, Nanae, ich wollte es im Zimmer nicht ansprechen, aber bist du in der Nacht nicht mal aufgestanden?" Nanae nickte durch das Wasser.
„Ich hab schlecht geträumt und konnte dann nicht mehr schlafen, also habe ich mir den Aufenthaltsraum angesehen und eine Runde mit Nathaniel gequatscht."
Yuuki drehte sich zu ihr um. „Nath? Warum war der noch wach?"
Nanae grinste ihr zu. „Wen hat er in seinem Zimmer?"
Yuuki nickte. „Ich verstehe. Der hat Ärger gemacht und Nathaniel aus dem Zimmer vertrieben, oder was?"
„Gewissermaßen."
„Ich würde nicht mit ihm tauschen wollen." sagte Yuuki und schwamm auf dem Rücken an Nanae vorbei.
„Castiel gegen Amber würde ich jederzeit unterschreiben." sagte Nanae. „Der hält meistens die Klappe und geht seiner Wege. Während Amber sich in jeden Mist einmischt und alles kommentieren muss."
„Auch wieder wahr. Ich kann es manchmal nicht glauben, dass sie und Nathaniel Geschwister sind. Und dann auch noch Zwillinge!"
Nanae lachte ungläubig auf. „Nicht? Und Noah und ich? Es ist, als hätten wir die Rollen getauscht. Bei mir ist Noah die Amber und ich bin Nathaniel."
Yuuki lachte. „So habe ich das noch gar nicht gesehen."
Die beiden Mädchen schwammen noch weitere 10 Minuten im badewannenwarmen Wasser und redeten über alles Mögliche, als sie entschieden, dass es nun Zeit fürs Frühstück wäre. Bibbernd hüllten sie sich in ihre Handtücher und huschten in die Kabinen. Mit schnell übergeworfenen Kleidern und feuchten Haaren gingen sie zurück in ihr Zimmer. Die Amber-Crew war nicht da, wahrscheinlich fäckerten die bei ihren ach so tollen Freunden in den Zimmern herum. Nanae suchte sich ihre Lieblingsjeans und den hautengen schwarzen Pullover heraus, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Zur Abwechslung hatte sie mal ihren Geschmack getroffen. In Unterwäsche wandte sie sich an Yuuki.
„Du, sag mal, ist mein Hintern echt so groß?" Sie drehte sich einmal um sich selbst. Yuuki sah sie an.
„Lass dir doch nichts einreden! Du siehst super aus, du hast Kurven an den richtigen Stellen und bist nicht zu dick! Bei dir quillt nichts über die Hose, wie bei Amber manchmal." Nanae sah sich im Spiegel an. Ihr Gesicht war normal. Sie hatte eine kleine Stupsnase mit ein paar Sommersprossen, volle Lippen und lange Wimpern. Ihre Augen waren rein grün, ohne Grau- oder Braunschimmer, wie viele ihn hatten. Sie lächelte. Sie hatte schöne Zähne. Nanae zuckte die Schultern.
„Danke." Sie zog sich an und kämmte sich die noch immer feuchten Haare.
„Doch nicht dafür." kam es von Yuuki. Während Nanae ihre Haare trockenkämmte, dachte sie über Castiel nach. Auch er hatte nie etwas Schlechtes über ihre Figur gesagt und er war bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sie glaubte sich zu erinnern, dass er ganz am Anfang einmal gesagt hätte, sie wäre schön.
Mit Schwung warf sie ihre Haare auf den Rücken und legte einen kleinen Spritzer ihres Lieblingsparfums auf. Sie stand schon an der Tür und trat heraus, als Yuuki zu ihr ging. Sie hatte allerdings nicht damit gerechnet, das jemand auf dem Gang war und so stolperte sie in die Arme einer Person, die ihr nur zu vertraut war. Sie sog Castiels maskulinen Duft ein. Der fing sie auf und brummte.
„Mann, du bist vielleicht ein Tollpatsch, Nana." Er stellte sie wieder auf ihre Füße und ging seiner Wege, ohne sie länger zu betrachten. Yuuki griff nach ihrem Arm.
„Alles ok?"
Nanae nickte. „Klar, er hat mich ja gehalten. Alles i. O."
Yuuki nickte und ging voran. „Da hättest du ihm fast die Tür vor den Latz geknallt, haha. Sag mal, seit wann sagt er denn eigentlich Nana zu dir? Ich dachte, das macht nur dein Vater?"
Nanae zuckte einen Augenblick. Sie hatte es also gehört.
„Eigentlich schon immer. Er hat noch nie meinen richtigen Namen gesagt. Wahrscheinlich ist es ihm zu anstrengend, NanaE zu sagen, wenn es mit Nana schneller geht."
„Der Kerl ist doch wirklich frech. Weiß er nicht, das man die Namen anderer Leute nicht einfach abändert, wenn die es nicht wollen? Wahrscheinlich ist es ihm egal."
Nanae sagte nicht, dass sie es im Grunde schön fand, das Castiel Nana sagte. Das hatte sonst eben nur ihr Vater gemacht und von allen anderen wurde sie richtig angesprochen, was sie manchmal nervte. Sie mochte ihren Namen, aber warum sollte man sie nicht Nana nennen? Weil es nicht vornehm genug war? Das sagte zumindest ihre Mutter.
„Mir macht es nichts aus." sagte sie nur.
„Du bist manchmal viel zu nett für diese Welt!"
Die beiden Mädchen stiegen die steile Wendeltreppe runter und öffneten die Tür zum Speisesaal, wo ein Frühstücksbüffet mit Brötchen, Aufstrich, Käse, Wurst und unzähligen Müslivarianten nur darauf wartete, von einer Horde Schüler vertilgt zu werden. Yuuki und Nanae packten sich je einen Teller voll und setzten sich anschließend an den Tisch von Nathaniel und Ken. Nanae sah sich um. Durch die Tische merkte man richtig, wie sich der Jahrgang in Kategorien unterteilte. Da waren die Schönen, die sich Wunder was auf sich einbildeten, zu denen auch die Amber-Crew und ihr, Nanaes, Bruder Noah gehörten. Dann die Nerds, die Comichefte, Science Fiction und World of Warcraft interessanter fanden als das andere Geschlecht. Die Sportlichen, die alle in einem der Sportvereine der Schule waren. Die, die keiner wirklichen Gruppe angehörten, wie Nanae und Yuuki oder Nathaniel. Und die, die nirgendwo dazugehören wollten und immer allein waren, wie Castiel, der allein an einem der Tische saß und seine Cornflakes löffelte.

Die Schüler zerstreuten sich nach dem Frühstück in alle Himmelsrichtungen. Die Girlies unter ihnen wollten in die Stadt gehen, um zu shoppen oder einen Kaffee zu trinken, andere wollten die Sportmöglichkeiten ausprobieren und andere wollten einfach nur in ihrem Zimmer abhängen. Yuuki und Nanae hatten sich Nathaniel angeschlossen und begaben sich wieder in die hoteleigenen Quellen, die aufgemacht waren wie ein japanischer Onsen. Becken, die aussahen wie echte natürliche Heißquellen, fein gepflasterte Gehwege, Rabatten mit Lotusblumen und Bambustrennwänden zwischen dem Frauen- und Männerbecken. Sogar einen beheizten Teich mit Kois gab es hier. Den Badebereich durfte man nur mit Badeschuhen betreten. Allerdings gab es eine Art Steg oder Brücke, die über das Gelände führte und den man mit normalen Straßenschuhen begehen durfte. Dort stand Castiel und überblickte das idyllische Areal, als Nanae mit Yuuki und Nathaniel, in Badesachen gehüllt, den Badebereich betrat. Ein leichter, aber eiskalter Wind ging und ließ Castiels karmesinrotes Haar tanzen. Nanae entdeckte und betrachtete ihn einen Augenblick lang. Er stand im Profil zu ihr und hatte die Hände in den Taschen.
Er war ein schöner Mann!
Die Erkenntnis traf Nanae wie ein Schlag. Zuvor hatte sie sich darüber nie Gedanken gemacht. Er sah gut aus, aber schön war eine ganze Kragenweite mehr. Als Castiel bemerkte, dass er nicht mehr allein in der Anlage war, wandte er sich ab und ging über den Steg hinweg zum anderen Ende, um dort hinter einer stabilen Holztür zu verschwinden. Dort hinter mussten die Sportanlagen liegen, dachte Nanae. Sie seufzte und zog damit Nathaniels Aufmerksamkeit auf sich.
„Hast du was?" fragte er fürsorglich.
Nanae schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nur kalt." sagte sie und stieg in das warme Becken.
Den Rest des Tages versuchte Nanae, nicht mehr an Castiel zu denken und dem Ärger mit Amber aus dem Weg zu gehen. Sie hatte mit Yuuki und Nathaniel eine Menge Spaß in den Badeanlagen und gesellten sich später zu Ken in den inneren Bereich des Schwimmbades, da es dort Wasserrutschen und Sprungtürme gab. Die Jungen versuchten, sich immer wieder selbst zu übertrumpfen mit ihren Sprüngen und die Mädchen feuerten sie dabei mächtig an. Yuuki hatte Recht, dachte Nanae. Ken war ein hübscher Junge mit schönen Augen, die durch seine olle Brille nur nicht zur Geltung kamen und einem sportlichen Körper. Sie hatte ihn noch nie so aufgedreht und wagemutig erlebt, war er doch eigentlich ein kleiner Schisser.
Als Nanae am Abend im Bett lag und das Badeareal in ihr heiliges Skizzenbuch zeichnete, schlich sich der rothaarige Störenfried allerdings doch wieder in ihre Gedanken, denn sie hatte den Drang, Castiel in ihre Szenerie zu zeichnen, wie sie ihn vorhin gesehen hatte. Sie gab diesem Drang nach und fügte ihn nahtlos in das Bild ein. Jeder, der dieses Bild sah, würde sofort erkennen, um wen es sich handelte, aber Nanae hatte das Gefühl, noch nie ein besseres Bild angefertigt zu haben.

Kirschblüten im Winter [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt