5. Die Nachtwanderung

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Es war der dritte Tag der Klassenfahrt, als sie alle beim Frühstück saßen. Herr Bohner, ihr Klassenlehrer und Tutor der 12. Klasse, klatschte mal wieder in die Hände. Das war eine Geste, die er besonders liebte. „Würdet ihr mir einen Augenblick lang eure kostbare Aufmerksamkeit schenken?", rief er in den Raum. Alle Köpfe wandten sich um. „Ich weiß, es ist sehr kalt draußen und es hat seit Tagen geschneit. Aber da ich nicht möchte, das ihr hier eure Hintern platt sitzt und damit ihr einen besonderen Eindruck von der Landschaft bekommt, erwarte ich euch heute Abend um zehn alle in der Eingangshalle, dick angezogen mit guten, warmen Schuhen und einer Taschenlampe. Die kann man hier auch ausleihen. Denn wir werden eine Nachtwanderung durch den Wald in das nahegelegene Dorf unternehmen, um da ein schönes, regional typisches Abendessen zu genießen. Es ist alles organisiert, ihr braucht kein Portemonnaie mitnehmen." Von den meisten kam Jubel und eifrige Zustimmung, aber es wunderte niemanden, dass Leute wie Amber sich darüber beschwerten, über drei Kilometer durch einen dunklen, kalten und verschneiten Wald wandern zu sollen. Nanae, Yuuki und Ken lächelten sich an. Solche Wanderungen hatten die drei, die schon in der Grundschule in einer Klasse waren, immer ganz besonders geliebt. „Ich werde uns ein paar extra Schokokekse einpacken, die helfen bei Kälte." lächelte Ken begeistert. Den Tag verbrachten sie mit Erwartung auf den kommenden Abend im Aufenthaltsraum beim Billiardspielen und in den Rasenanlagen beim Schneemannbauen. Sie lieferten sich eine heiße Schneeballschlacht mit Ken und Nathaniel, an der sich für einige Minuten sogar Castiel beteiligte, als er von allen Seiten unter Beschuss stand. Um 21 Uhr gingen die Mädchen auf ihr Zimmer, um sich für das bevorstehende Wandern wetterfest zu machen. Sie zogen sich trockene und warme Socken an und Nanae schlüpfte in ihre guten rutschfesten Winterstiefel. Sie hatte den Tag über ihre Turnschuhe getragen und die waren nun klitschnass vom Schnee. Sie stellte sie auf das Fensterbrett über der Heizung. Sie suchte in ihrer Tasche nach ihrer Wollmütze. Einen Schal brauchte sie bei ihrer Haarlänge nie, sie wickelte sich immer die Haare um den Hals. Yuuki schnatterte vor Vorfreude über alles und nichts. „Ich habe sogar, als hätte ich es geahnt, eine richtig gute Taschenlampe eingepackt." sagte Nanae mit einem Grinsen und verstaute die Lampe und ein paar starke Ersatzbatterien in ihrer Tasche. Wie aus Reflex griff sie nach ihrer kleinen Uhrkette und verstaute auch sie in der Jackentasche. Sie setzte sich mit Yuuki auf das Bett und alberte herum, als die Amber-Crew und ihr üblicher Geräuschpegel in den Raum kamen. „Ihr wisst gar nicht, wie dämlich ich diese Scheißwanderung finde! Wo sind wir denn, dass ich wie ein Penner durch den Wald kraxeln soll?" Amber riss die Schranktür auf und ihre ganzen Klamotten quollen ihr beinahe entgegen.
„Ach Gott, da kann sie dann ja gar nicht ihre tollen High Heels tragen!" stichelte Yuuki zu Nanae. „Und durch das Laufen könnte sie ja anfangen, etwas zu schwitzen oder gar ein paar Gramm abzunehmen!" fügte sie hinzu. „Und niemand sieht ihr übertriebenes Makeup!" setzte Yuuki hinterher. Amber knallte die Schranktür zu und warf ihren leuchtpinken Wintermantel auf das Bett. „Na beim Thema abnehmen hätte ich lieber nicht so eine große Klappe, was, Ashmore?" Nanae zuckte die Schultern. „Meine Meinung dazu kennst du. Lieber etwas mehr auf den Rippen als aussehen wie das Maskottchen der Welthungerhilfe." Amber schnaubte und zog ihre Jacke an. Sie funkelte Nanae und Yuuki nur an, während sie ihren Schal umlegte. Sie war wegen der Nachtwanderung offenbar zu aufgebracht, um sich richtig mit Nanae und Yuuki anzulegen. Die beiden Mädchen standen auf und verließen, in ihre Jacken schlüpfend, den Raum und ließen die Amber-Crew in ihrem Frust allein. „Was man sich wegen ein bisschen Bewegung so aufregt! Die will wohl auch mit 'nem Chauffeur gefahren werden." Yuuki schüttelte den Kopf.
„Dann kann sie meinen haben!" sagte Nanae nur.
Yuuki lachte und zog Nanae an der Hand mit in die Eingangshalle, wo Ken schon aufgeregt von einem Bein auf das Andere trabte. „Seid ihr auch schon so aufgeregt?" Er hielt den Mädchen jeweils einen Prinzenrolle-Keks hin, den sie dankbar annahmen. Sie nickten beide. Nathaniel stellte sich ungefragt zu den Dreien und wickelte sich einen blauen Schal um den Hals. „Es soll heute die ganze Nacht schneien, das wird sicher spannend." Auch er bekam ungefragt einen Keks in die Hand geschoben, den er, obwohl er kein Fan von Süßigkeiten war, genüßlich anzuknabbern begann.
Zäh trabten nach und nach alle Schüler des 12. Jahrganges in die Eingangshalle. Alle waren angezogen, als wollten sie eine Expedition nach Sibirien starten, auch wenn Ambers neonpinker Wintermantel und auch ihre Mimik nicht recht in das Bild passen wollten. Sie hatte tatsächlich frischen Lipgloss aufgetragen, obwohl eine dicke Schicht Feuchtigkeitscreme bei der Kälte draußen angebrachter gewesen wäre. Nanae sah in größtenteils aufgeregte Gesichter. Sie erspähte Castiel, als der als Letzter zur Gruppe dazustieß. Er hatte einen dicken Wollschal locker um den Hals gelegt, trug aber keine Mütze. Er würde sicher niemals eine Mütze tragen. Er mochte seine Haare und zeigte sie gern, denn die Farbe war 100% Natur. Er sagte ihr einmal in einem ruhigen und sanften Moment, das seine Haarfarbe das Einzige war, das er an sich mochte, denn sie machte ihn einzigartig und unverwechselbar. Durch die Farbe wurde er überall wahrgenommen. Nanae hatte damals das Gefühl, das er sich von seinen Eltern verletzt fühlte, weil sie beide als Fernfahrer durch Europa fuhren und ihn seit seinem 15. Lebensjahr immer wieder wochenlang allein ließen.
Er war tatsächlich pünktlich erschienen. Um Punkt 22 Uhr bliesen ihr Tutor und der Begleitlehrer zum Aufbruch. Sie alle sollten sich einen Begleiter suchen und darauf achten, dass der immer an ihrer Seite war, damit niemand verloren ging. Nanae griff nach Yuukis Hand und Nathaniel und Ken blieben wie selbstverständlich an der Seite der Mädchen. Nanae warf einen letzten Blick zu Castiel und bemerkte, wie Amber offenbar versuchte, seine „Wegpartnerin" zu werden, der sie aber so frostig ansah, das sie sich mit Schmollmund trollte. Bevor Nanae wusste, wie ihr geschah, verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem Grinsen. Aus irgendeinem Grund machte es sie glücklich, zu sehen, wie Castiel eine wunderschöne Elfe wie Amber abblitzen ließ.

Kirschblüten im Winter [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt