28 - Vergangenheit

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Ich wurde in einem Zimmer mit drei anderen Mädchen untergebracht. Wir konnten uns alle nicht ausstehen. Zwei davon waren notorische Schulschwänzer, die mehr Zeit in ihr Makeup investierten anstatt in die Schule. Die dritte sprach nicht, hantierte aber offensichtlich öfter mal mit Rasierklingen an ihren Handgelenken herum. Ich fand zu keiner von ihnen einen Draht, auch wenn ich mich am Anfang wirklich angestrengt hatte.

In der ersten Nacht wurden viele Tränen vergossen. Marlo schrieb ich, dass ich wie ein Baby geschlafen hatte. Ob er mir das glaubte, konnte ich nicht sagen. Er dürfte mich hier nicht besuchen und das war reinste Folter. Seitdem wir zusammen waren, waren wir nie so lange getrennt gewesen. Er fehlte mir so sehr.

Die Stimmung war furchtbar. Keiner der Jugendlichen wollten hier sein. Keiner wollte mit Fremden Weihnachten feiern. Ich saß viel vor meinem Laptop und ließ die Zeit vergehen. Es gab nicht viel zu tun.

Ich merkte, wie ich immer tiefer in ein schwarzes Loch fiel, denn mein Sonnenschein fehlte.

Am dritten Tag wurde ich ins Büro gerufen. Ich war nervös, denn mir war bewusst, dass es einen guten Grund hatte, wenn man ins Büro sollte.

„Hallo Violett", wurde ich begrüßt.

„Hallo", entgegnete ich knapp.

„Setz dich doch!"

Ich setzte mich und starrte auf die goldene Winkekatze, die auf dem Schreibtisch stand und nicht gerade zu meiner Beruhigung beitrug.

„Wir haben deinen Fall im Eilverfahren geprüft. Du wirst morgen in ein dauerhaftes betreutes Wohnheim ziehen."

Moment, was? Das war nicht der Plan gewesen.

Dieser Satz traf mich wie ein Schlag in die Magengrube.

„Nein, nein! Da liegt ein Fehler vor. Familie Zarow hat mir doch angeboten, dass ich bei ihnen wohnen kann!"

„Das weiß ich und wir haben das auch geprüft und Gespräche geführt. Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass du dort nicht bleiben kannst."

Das war unmöglich. Was sollte dagegen sprechen?

„WARUM?", brüllte ich völlig hysterisch.

Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass so etwas passieren konnte. Ich hatte Hoffnung gehabt und versucht mir etwas von Marlos Optimismus abzugucken. Alle hatten immer gesagt, dass alles gut werden würde. Doch so, wie es jetzt war, war gar nichts gut.

„Das ist ein Männerhaushalt, in dem du nicht einmal ein eigenes Zimmer hättest", versuchte sie mir die Entscheidung zu erklären, doch es machte für mich keinen Sinn.

„Na und? Marlo ist mein Freund! Andere in meinem Alter wohnen schon allein mit ihrem Freund in einer Wohnung und schlafen in einem Zimmer. Wo ist da das Problem. Es ist für alle okay."

Sie schüttelte den Kopf.

„Dein Fall ist anders."

„WIESO?"

„Weil du sexuell missbraucht wurdest."

Hätte ich Wasser im Mund gehabt, wäre es ihr jetzt direkt ins Gesicht gespritzt. Ich presste vor Wut meine Lippen zusammen. Ich hatte ein unglaubliches Bedürfnis hier wild rumzuschreien und alles in Stücke zu schlagen. Das hier war ein absoluter Albtraum.

„Was? Woher-.", stammelte ich.

„Wie gesagt, wir haben Gespräche geführt." Sie hatten es dem Jugendamt gesagt. Warum? Ich glaubte nicht, dass es Marlo gewesen war. Es musste Thorsten gewesen sein. Er hatte damit alles kaputt gemacht. Hätte ich doch bloß meine Klappe gehalten. Ein Ereignis, das nun 11 Jahre zurücklage wurde mir nun zum Verhängnis. Sie hatten mir damals nicht nur meine Unschuld genommen, sondern jetzt auch noch die Chance auf ein normales Leben. „Unter diesen Umständen können wir dich nicht mit zwei Männern zusammenwohnen lassen."

„Es macht mir nichts aus", widersprach ich verzweifelt. „Das ist Jahre her. Ich war noch ein kleines Kind und die letzten Monate lief es doch auch gut."

„Tut mir leid, aber es geht nicht. Manchmal machen sich Traumata auch später erst bemerkbar. Das Risiko wollen wir nicht eingehen."

„Aber-."

„Violett", unterbrach sie mich streng. „Es gibt nichts mehr zu diskutieren. Der Entschluss ist gefallen und daran wird sich auch nichts ändern. Ganz egal, wie viel du jetzt bettelst."

Ich schluckte schwer. Das war es also. Ein paar Wochen hatte ich in den Genuss eines normalen Lebens kommen können und nun wurde es mir wieder entrissen. Menschen konnten so grausam sein.

„Sie herzloses Miststück!", kreischte ich ihr ins Gesicht.

Ich sprang von meinem Stuhl auf und rannte nach draußen. Ich lief in mein Zimmer und schnappte mir meinen noch gepackten Rucksack. Da unser Zimmer im Erdgeschoss war, konnte ich einfach aus dem Fenster springen und weglaufen. Nur der Teufel würde mich in ein betreutes Wohnen bringen.

Ich lief durch den strömenden Regen. Ich wusste nicht wohin. Ich konnte nicht zu Marlo, denn dort würden sie als erstes suchen. Zu Mel konnte ich auch nicht, denn sie war mit ihrer Familie über Weihnachten nach Indonesien geflogen. Ansonsten gab es niemanden, den ich genug vertraute. Die meisten Freundschaften, die ich hatte, waren Schulfreundschaften. Wir verstanden uns gut in der Schule, aber bei denen zu Hause war ich noch nie gewesen. Noch nie im Leben hatte ich mich so sehr nach einem Vater gesehnt. Ich könnte zu ihm gehen und um Hilfe bitten. Wenn ich doch nur wusste, wer er von den 3 Milliarden Männern auf dieser Welt war.

Da Sonntag war, waren die Geschäfte geschlossen. Ich konnte mich nicht einmal ins Einkaufszentrum zurückziehen. Mir fiel nur der Bahnhof ein, wo ich vor dem Regen geschützt war. Ich setzte mich dort auf eine Bank und kam mir vor, wie eine Obdachlose. Wie einer von den Pennern, neben den sich nie jemand setzen wollte. Genau genommen war ich im Augenblick auch obdachlos. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Wo sollte ich denn jetzt hin?

Ich saß sehr lange dort. Ich sah viele Familien, die wohl ihre Verwandten besuchen wollten. Sie hatten große Tüten mit Geschenken dabei und Weihnachtssterne, an denen Glitzerstaub klebte. Manchmal bekam ich mitleidige Blicke, aber nicht keiner sprach mich an. Ich konnte mich nicht erinnern, mich jemals so allein gefühlt zu haben. Ich fühlte mich verloren.

Es wurde kalt und ich musste feststellen, dass ich einen Ort brauchte, an dem ich schlafen konnte. Ich hatte gerade mal zehn Euro bei mir. Mein Magen knurrte und ich hatte Durst. Ich ging in eine Tankstelle und holte mir Wasser und einen Apfel. Jetzt hatte ich nur noch 9 Euro. Damit konnte ich mir nirgends ein Zimmer leisten. Ich kauerte mich in eine Bushaltestelle und zog die Knie fest an meinen Körper und umschlang sie mit meinen Armen.

Der Regen verwandelte sich mit der Zeit in Schnee.

Ich war am Tiefpunkt meines Lebens angekommen. Wenn ich hier in dieser Bushaltestelle heute Nacht erfrieren sollte, dann war es eben so. Es war mir egal. Nur um Marlo würde es mir leid tun. Ich hatte mich wirklich in ihn verliebt gehabt und er hatte mir das Gefühl gegeben, dass alles gut werden würde. Für einen kurzen Moment hatte ich wirklich gedacht, dass ich ein normales Leben haben könnte.

Doch das würde nie so sein.

Meine Kindheit war viel zu unnormal gewesen, um jetzt ein normales Leben zu führen. Die Schatten von Kindesmisshandlung und sexuellen Übergriffen würden sich über mein gesamtes Leben legen.

Meine Mutter hatte aus mir einen gebrochenen Menschen gemacht.


Broken PrincessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt