Kapitel 9

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Ich spürte ein Kribbeln in meinen Armen. Um genau zu sein, war es kein richtiges Kribbeln und es waren auch nicht einfach nur meine Arme. Es war, als würde ein kalter Wind gegen meine Unterarme strömen, während es in mir, an der Innenseite meiner Handgelenke, warm wurde.

Immer, wenn ich das spürte, tauchten diese Bilder vor meinen Augen auf, und um mich zu vergewissern, dass das, was ich sah und spürte, nicht die Realität war, schaute ich jedes Mal auf diese Stellen an meinen Armen. Da, wo man die blauen Adern sehen konnte, wie sie diese lebenserhaltende Flüssigkeit durch meinen Körper transportierten.

Denn auf den Bildern floss das Blut nicht durch meinen Körper, sondern aus ihm heraus. Ich sah, wie es meinen Arm hinunter lief. Und ich spürte es. In meinem Arm nahm ich einen Schmerz, einen Druck, wahr, der es noch realistischer erschienen ließ.

Ich würde lügen, wenn ich leugnen würde, dass ich nie darüber nachgedacht habe, mich selbst zu verletzen, denn ich sah diese Bilder, stellte mir vor, wie es wäre, ein Messer über meine Haut zuziehen.

Aber getan habe ich es nie.

Ich stand vom Bett auf und setzte mich wieder an den Schreibtisch.
Vielleicht hatte ich einfach nie den Mut dazu. Oder ich konnte mich zurückhalten, weil ich wusste, dass es nicht richtig war. Es würde nichts ändern. Zumindest glaubte ich das.

Denn wirklich wissen konnte ich es nicht. Vielleicht würde der Schmerz mich besser fühlen lassen.

Diesen Gedanken fand ich gar nicht so absurd, wenn ich länger darüber nachdachte. Doch ich war mir ziemlich sicher, dass es mir nur kurz helfen würde. So wie eine Droge, dessen Wirkung nach einiger Zeit verblasst, bis sie schließlich vollkommen verschwindet.

Meine Hände stützten mein Gesicht, ich schloss die Augen und hielt unwillkürlich die Luft an.

Ich war hier, ganz unten, und versuchte, irgendwas zu erlangen, das sich im Himmel befand. Es war völlig unmöglich.

Eine Träne suchte sich ihren Weg über meine Wange.

Die Wolken waren so verdammt weit weg. Und ich fühlte mich so klein, wie ich auf diesem Stuhl saß, mein Gesicht von meinen Händen bedeckt.

Ich wusste nicht, ob ich je herausfinden würde, warum das alles so war, wie es war. Eigentlich interessierte es mich auch nicht so sehr wie die Frage, wie ich da jemals herauskommen würde. Ob ich da jemalsherauskommen würde.

Doch vielleicht musste ich ja auch wissen, warum es so war, damit ich es ändern konnte.
Warum war ich hier unten?

Ich klappte das Heft vor mir zu, in dem die Protonen noch immer mit unvorstellbarer Geschwindigkeit umher rasten, und legte es beiseite.Dann holte ich alle anderen Hefte und Bücher aus meinem Rucksack, um sie in den Schrank zu legen und danach die Sachen für den nächsten Tag einpacken konnte.
Plötzlich lag ein einzelner Zettel vor mir.Ein Zettel mit kleinen Männchen und einer Blume, mit Kreisen und Strichen und zwei Worten.
Atomphysik.
Und später.

Vor mir tauchte Adam auf, wie er sagte: „Ich habe es noch niemandem gesagt" und mich dabei anschaute.
Ich starrte weiter auf den Zettel und versuchte, mir seine Worte in Erinnerung zu rufen.

„Das heißt, du darfst dich jetzt geehrt fühlen." Das hatte er gesagt.

Ich konnte sein schiefes Lächeln dabei vor mir sehen, wie er mich ansah und etwas in seinen Augen aufblitzte.

Am nächsten Tag saß ich ohne Kopfhörer auf dem alten Sitz im Bus. Manchmal fragte ich mich, wie lange es diese Sitze gab und wie lange ihre Bezüge schon dreckig waren. Ich dachte darüber nach, wie viele Leute schon darauf gesessen hatte, und sie kamen mir gleich nochschlimmer vor. Eigentlich waren sie gar nicht so schrecklich, zumindest nicht so sehr, dass man nicht mehr darauf sitzen konnte, aber eine Erneuerung würde auch nicht schaden.

Der wahre Grund dafür, dass ich heute keine Musik hörte, war, dass ich insgeheim hoffte, mit jemandem zu reden. Und dieser Jemand war Adam.

Obwohl ich mir dabei eigentlich gar nicht sicher war.
Das Verwirrende an der Sache war, dass es so einfach war, mit Adam zu reden. Und das nicht, weil die Themen primitiv waren – nein, das waren sie ganz und gar nicht!

Ich fühlte mich dabei leicht.

Wenn ich mich sonst mit jemandem unterhielt, war das mehr eine Qual, eine Last, die einen ungeheuren Druck in mir auslöste. Ich musste aufpassen, was ich sagte und wie ich mich verhielt.

Außerdem hatte ich das seltsame Gefühl, dass Adam mich völlig durchschaute.Wenn er mich ansah, mit diesem Blick, fühlte ich mich, als würde er direkt in mein Inneres schauen können. Deswegen war es ein verdammt hohes Risiko mit ihm Zeit zu verbringen.
Ich hatte einfach Angst.Angst, dass er mich und meine Worte, meine Lügen, tatsächlich durchschaute oder herausfinden könnte, was los war.

Was mit mir falsch war.

Dass ich falsch war.


Mein Blick war auf die Anzeige gerichtet und verfolgte die angeschriebenen Haltestellen, sprang dann aber blitzschnell zu den Türen, hinter denen ich neben einigen Fünftklässlern und einem grauhaarigen Mann, der die Zeitung gerade sinken ließ, einen großen Jungen mit dunklen Haaren erblickte, und dann auf meinen Schoß, damit es keinesfalls so wirkte, als hätte ich tatsächlich nach ihm Ausschau gehalten. In der Position verharrte ich dann auch, bis ich aus dem Augenwinkel erkannte, wie er auf mich zu kam. Er trug seine Lederjacke, eine dunkle Hose und ein helles Shirt, und hielt sein Handy in der Hand.

„Darf ich?", fragte er, als er bei mir angekommen war.

„Ja, natürlich."
Er ließ sich auf den Platz neben mir fallen und sagte erst einmal gar nichts. Ich war total angespannt, aber wie er nun einfach nur still da saß, beruhigte mich.
„Also, June", sprach er dann doch irgendwann, und ich konnte mir sein Schmunzeln dabei schon vorstellen, „was machst du in deiner Freizeit?"
„Ich spiele Gitarre. Und du?", gab ich die Frage zurück.
Lachend erwiderte er: „Ich bin ja gerade erst hergezogen."

„Aber davor? Was hast du vor dem Umzug gemacht?", fragte ich irritiert.
Zögernd antwortete er: „Ich spiele Klavier."
Erstaunt musterte ich ihn.

„Habt ihr kein Klavier?"
„Doch."

In meinem Hirn versuchte jede Zelle, das, was er sagte und was es zu bedeuten hatte, zu verstehen. Doch ich kapierte es nicht.

„Aber wieso spielst du dann jetzt nicht mehr? Konntet ihr es nicht in das neue Haus mitnehmen?"

Ich überlegte, ob er in einer Wohnung oder in einem Haus lebte. Vielleicht würde ein Klavier darin zu viel Platz wegnehmen.

„Doch."

Er hatte die ganze Zeit stur geradeaus geguckt, jetzt drehte er sich zu mir um und blickte direkt in meine Augen. In seinen bemerkte ich ein winziges Funkeln, als er sagte: „Ich liebe es. Wenn du magst, kann ich dir mal etwas vorspielen."

„Ja, das... Das wäre toll", stotterte ich.

Im nächsten Augenblick fragte ich mich, ob ich mir dieses Leuchten nur eingebildet hatte.

Wann hatten meine Augen das letzte Mal so ausgesehen?


Noch einmal danke ich euch allen von ganzem Herzen für die Tausend! Nun sind es tatsächlich schon 1,1 K. Ihr könnte euch kaum vorstellen, wie glücklich mich das macht.

Was haltet ihr von Adams Leidenschaft, von der June gerade erfährt?
Ich freue mich natürlich immer über Kommentare, Nachrichten und Anregungen! Sagt mir eure Meinung: Was denkt ihr über die Geschichte, meinen Schreibstil und die Charaktere?
PS: Der kleine Stern freut sich immer wahnsinnig, wenn er Farbe kriegt.


The Adam-TheoryWhere stories live. Discover now