Kapitel 23

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Ich betrachtete meine Socken. Sie waren weiß – zumindest auf der Seite, die ich sehen konnte. Auf ihrer Unterseite war sicherlich schon ein bräunlicher Abdruck zu erkennen. Das war einer der Gründe, warum ich ungern weiße Socken trug. Doch sie sahen zu meinen Sneakers gut aus, weil sie unscheinbar waren, also hatte ich um die fünf Paar weißer Socken im Schrank. Trotzdem hatte es mich anfangs jeden Abend gestört, als ich sie auszog und mich fragte, warum die Menschen weiße Socken so toll fanden, wenn man den stilistischen Aspekt mal außer Acht ließ. Aber das tat ein Großteil der Menschheit ja nicht.

Meine Beine sanken nach unten und fielen sanft auf das Bett. Nun trennte mich von der Decke nur noch ein Raum Luft. Eine Mischung aus 78% Stickstoff, knapp 21% Sauerstoff und einiger anderer Gase. Ich mochte Zahlen. Sie waren einprägsam und gaben mir deshalb das Gefühl, an etwas festhalten zu können, was nicht verschwand. Vier mal vier würde immer 16 sein und 27 würde nie 63 sein. Das war mathematisch festgelegt und niemand konnte daran rütteln. Diese Gesetze würden mich nie verlassen. Auf sie könnte ich ewig zählen.

Meine Gedanken wanderten von der Luft zur weißen Decke und von dort zu Adam. Das bedeutete nicht, dass ich Adam mit ihr assoziierte. Das war lediglich so, weil die Decke nichts Besonderes an sich hatte, ich keine Gedanken zu ihr finden konnte und so zu dem, was sonst so in meinem Kopf war, abschweifte. Und das war zu einem erschreckend großen Anteil Adam.

Flüchtig guckte ich auf die Uhr. Der kurze Zeiger schien den Abstand zur 12 immer weiter verringern zu wollen. Seufzend stand ich auf und schaltete das Licht aus, sodass ich im Dunkeln ins Bett huschte.

So ganz verstehen konnte ich immer noch nicht, was er über Perfektionismus gesagt hatte. Es war ein schwieriges Thema, schon klar, und es war Adam, der seine Meinung dazu abgegeben hatte, und dadurch wurde das ganze noch schwerer zu durchblicken.

Ich bemühte mich jedoch, mir ein klares Bild zu machen:

Perfektionismus. Was war das? Die perfekte Person war für mich nett, zuvorkommend, lustig, hübsch und wusste immer das richtige zu sagen. Das schloss sich allerdings wieder aus, außer sie verstellte sich für andere, was ich eigentlich nicht als positiv sehen würde. Doch sonst könnte sie kaum lustig sein und immer das „richtige" sagen, schließlich teilten nicht alle Menschen den gleichen Humor und haben somit unterschiedliche Ansichten der Bezeichnung „witzig" oder „richtig". Wie war man also perfekt?

Adam nach musste man lediglich man selbst sein. Das klang so einfach. Und dann sollte man das sein, was wir alle wollten? Kein Plastik-Flamingo, sondern ein echter, so wie er in der Natur vorkam? War das wirklich so simpel?

Doch obwohl diese „Lösung" zur Perfektion so verdammt einfach wirkte, stellte sich heraus, dass sie das keineswegs war.

Zuerst einmal musste man doch wissen, wer man war. Was war dieses „man selbst" und wie lebt man es aus? Woher weiß man, dass man nicht etwas ganz anderes ist als man es all die Zeit glaubte zu sein?

Zweitens musste man das dann auch noch sein. Man musste dazu stehen, wie oder wer man war, und das war in der heutigen Gesellschaft definitiv nicht so leicht.

Natürlich stellte ich mir an dieser Stelle die Frage, wer ich eigentlich war und ob ich „perfekt" war. Also ob mir bewusst war, was ich war, und ich dazu stand. Ehrlich gesagt konnte ich schon den ersten Aspekt nicht wirklich erfüllen: Ich hatte keine Ahnung, wer ich war.

Klar, ich war June. Und ich war, wenn man meinen Freunden und Eltern glauben durfte, ein sehr höflicher Mensch, sehr intelligent und konnte gut Gitarre spielen. Doch wie viel davon war ein nettes, halb gelogenes Kompliment gewesen und wie viel entsprach der Wahrheit? Außerdem – war ich wirklich immer so nett und zuvorkommend? Natürlich zwang ich mich häufig zu höflichen Gesten oder hielt mich zurück, etwas Negatives zu sagen, aber konnte man dann noch behaupten, dass das wirklich „ich" war? Und was war ich noch? Ich dachte eine Menge nach, das wusste ich. Das konnte doch nicht alles sein!

The Adam-TheoryWhere stories live. Discover now