In der Pause stand ich bei Viola und Alison und hörte ihnen zu, wie sie über die Arbeit redeten, die sie gerade hinter sich gebracht hatten.
Zwischendurch warf ich ein bestätigendes „Oh ja, das hätte ich auch nicht gewusst" ein oder nickte überzeugend, und das stimmte auch. Vermutlich hätte ich es wirklich nicht besser gemacht, wenn ich überhaupt wüsste, worüber sie gerade redeten.
Es war nicht so, dass ich gar nichts erzählte. Ich redete durchaus mit ihnen. Nur nicht mehr als ich es für nötig hielt.
Als ich gerade wieder in meine Gedanken abtauchen wollte, in denen ich mich fragen würde, warum ich hier schweigend mit meinen Freundinnen stand und warum ich das nicht änderte, mir aber auch auffallen würde, dass ich dazu gar keine Lust verspürte und die Kraft vermutlich auch nicht auftreiben könnte, bemerkte ich, wie beide mich neugierig ansahen. Sie mussten soeben etwas gefragt haben.
„'Tschuldigung, was?"
„Ich sagte", wiederholte Alison, „Ich habe gehört, dass der Neue ziemlich gut aussehen soll."
Sie sah mich mit diesem viel-sagendem Blick an und wackelte mit den Augenbrauen.
„Wenn du meinst", antwortete ich, bemüht, gleichgültig zu klingen.
„Komm schon, June! Wie ist er denn nun so?", fing nun auch Viola an.
„Ist ja gut!", gab ich auf, „Ja, er ist schon ganz nett."
„Ganz nett?"
„Ja, ganz nett. Er ist echt in Ordnung", ergänzte ich.
Und dann fügte ich hinzu: „Er ist sehr nett. Aber irgendwie etwas komisch."
„Komisch? Wie meinst du das", fragte Viola irritiert.
„Irgendwie ist er anders als andere", meinte ich nachdenklich.
Alison flüsterte: „Ist er... Du weißt schon, auf diese Art komisch?", und fuchtelte dabei mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.
„Nein, er ist nicht verrückt", antwortete ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Verrückt? Was war das schon? Durchgeknallt? Waren das gleich psychisch kranke Monster, die uns alle in eine Unterwelt reißen wollten?
„Gut", sie atmete erleichtert auf und lachte, „einer im Jahrgang reicht schon."
Sie redete von Christian. Er ging in ihre Klasse und war bekannt dafür, dass er früher sehr schnell wütend geworden war. Nachdem er dann eines Tages eine Schlägerei angefangen hatte, hatte er wöchentlich mit einem Psychologen reden müssen.
Und das hatte ihm tatsächlich geholfen.
Aber für Alison wird er wohl immer „der verrückte Chris" bleiben.
„Hör mal, Alison, du kannst ihn nicht ewig für gestört halten! Das ist schon fast zwei Jahre her und seine Therapie hat er jetzt auch hinter sich gebracht", verteidigte Viola ihn.
Zu mir sagte sie dann: „June, wenn du ihn nett findest und er nett zu dir ist, ist dann nicht egal, wie die anderen sind? Solange du ihn magst, ist doch alles gut."
Sie hatte recht. Es zählte nicht, was andere dachten. Außerdem hatten sie doch keine Ahnung. Adam war noch ganz neu hier, er schien keinen zu kennen. Wie sollte jemand etwas von seiner Vergangenheit wissen? Niemand tat das. Auch ich nicht. Ich hatte auch kein Recht dazu, etwas über das Leben von Adam Black zu erfahren, schließlich waren wir keine Freunde oder so etwas.
Vielleicht Bekannte.
Wenn überhaupt.
Eigentlich wusste ich auch nicht viel über ihn. Aber das wollte ich ändern. Irgendwas in mir wollte ganz dringend erfahren, was Adam vorher gemacht hatte, und warum er hierher gezogen war. Immer deutlicher spürte ich diesen Drang, der unbedingt wissen wollte, was das für ein Grund gewesen sein musste, seine gewohnte Umgebung zu verlassen und in eine völlig neue Welt aufzubrechen, aber genauso brennend interessierte er sich für alles andere an Adam Black. Was war das für ein Junge?
Mir fiel das Gespräch im Bus wieder ein. Ich stellte mir vor, wie Adams Finger über die Tasten eines Klaviers glitten.
Es passte zu ihm. Es gefiel mir. Und so, wie seine Augen geleuchtet hatten, liebte er es wirklich.
Ich dachte darüber nach, welche Absichten Schiller gehabt hatte, als er „An die Freude" schrieb, und kam zu keiner vernünftigen Antwort. Vielleicht hatte er einfach Lust gehabt, der Welt von seinen Vorstellungen von Freundschaft und Gemeinschaft zu erzählen. Ich stellte mir vor, wie ein Mann wie er damals gelebt haben musste. Hatte er wirklich für die Welt da draußen geschrieben, oder doch nur für sich selbst? Ob er zu seiner Zeit schon berühmt gewesen war? Ich war mir ziemlich sicher, dass seine Stücke bereits zu Lebzeiten aufgeführt wurden.
Ich zuckte erschrocken zusammen, als Toby mich unter dem Tisch antippte.
„Was?", fragte ich etwas gereizt.
Er hielt mir einen Zettel hin, während er tonlos erklärte: „Von Adam."
Toby war einer dieser Jungen, die wenig sprachen. Er war eigentlich ein netter Sitznachbar, vielleicht gerade weil er so wortkarg war, und eigentlich mochte ich Stille, aber neben Toby fühlte ich mich dabei immer schlecht. Es war keine beruhigende Stille, so eine, die man genießt, in der man einfach schwieg und alles gut war. So eine Stille hatte ich noch nie erlebt. Bei Toby fühlte ich mich eher abgewiesen, so als würde er dabei die ganze Zeit sehr schlaue Gedanken haben, während ich nicht mehr mitkam.
Und das Schlimmste daran war, dass ich meine Gedanken in all diesem Schweigen noch lauter als sonst hörte.
Weil, ich hasste meine Gedanken.
Verblüfft nickte ich und nahm ihm gespannt den Zettel ab. In den wenigen Sekunden, in denen ich den Zettel auseinander faltete, stellte ich tausend Dinge vor, die darauf stehen könnten.
Und dann stand da:
202-736-1283
Adam.
Ich las das Ganze mindestens drei Mal, bevor ich verstand, was es bedeutete. Und selbst dann war ich mir nicht ganz sicher, dass ich es richtig verstand. Doch was konnte man daran falsch verstehen, dass Adam mir gerade seine Nummer gegeben hatte?
Auf eine Lösung kam ich in dieser Stunde nicht mehr, und auch in den nächsten Stunden hatte ich Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren.
Das ging den ganzen Nachmittag so. Zwar hatte es nicht lange gedauert, bis ich seine Nummer eingespeichert hatte, aber seitdem hatte ich mein Handy in der Hand gehalten, Nachrichten eintippt und wieder gelöscht, es auf die andere Seite meiner Zimmers gelegt und trotzdem alle zehn Minuten drauf geschaut. Ich wusste nicht, was ich schreiben sollte, und am Anfang war ich mir nicht einmal sicher gewesen, ob ich ihm überhaupt schreiben sollte. Schließlich war ich zu dem Schluss gekommen, dass ich es unbedingt tun sollte, er hatte mir ja nicht umsonst seine Nummer gegeben.
Die Frage, die blieb, war die, was ich schreiben sollte.
Und mit der im Kopf saß ich noch den ganzen Abend da.
Irgendwann hatte ich mir einfach überlegt, es auf den nächsten Tag zu verschieben, was zugegebener Maßen schon etwas traurig war, wenn man bedachte, dass es nur eine simple Nachricht war.
Aber aus irgendeinem besonders hartnäckigen Grund wollte ich nur das Richtige schreiben, was schlecht möglich war, da ich Adam überhaupt nicht einschätzen konnte. Und weil ein einfaches „Hi", ein „Hey", ein „Hallo" mich zu sehr daran erinnerte, was er über Standard-Dinge gesagt hatte. Spätestens ab dem Gedanken war in meinem Hirn dann eine Sicherung durchgebrannt und ich hatte mein Handy erst einmal abgeschaltet.
Hallo ihr da draußen,
für mich ist es immer wieder unglaublich, wenn ich sehe, dass jemand mir etwas so Nettes schreibt, schon wieder eine andere Zahl hinter dem Komma steht oder ein neuer Follower mich zum Lächeln bringt. Jemand, der sich für June interessiert, und für Adam. Für THE ADAM-THEORY. Danke, dass ihr da seid & danke, dass ihr mich das spüren lasst!
June hält also den Kontakt zu Adam im wahrsten Sinne des Wortes in den Händen. Und trotzdem schreibt sie ihm nicht, aus Angst, etwas Falsches zu tun.
Was hättet IHR geschrieben?Vergesst den farblosen Stern bitte nicht. Wer möchte schon in einer Welt ohne Farbe leben?
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The Adam-Theory
DragosteJune lebt in einer weißen Welt, während ihr Inneres Dunkelheit birgt. Sie hat nicht die leiseste Ahnung, wie sie da hinaus kommen soll. Doch dann trifft sie auf Adam Black, der die absurdesten Dinge logisch erscheinen lässt, Unmögliches möglich mach...