«Häutung meines Menschenbildes»

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INTERVIEW

Konfrontation mit dem Bösen: Der ehemalige Psychotherapeut, Delegierte des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) und heutige Journalist Eugen Sorg warnt vor der Relativierung des Bösen.

Seine Erfahrungen in Kriegsgebieten erlebte Eugen Sorg als Schock, der seine Überzeugungen veränderte. Wer das Böse leugnet, so seine Erkenntnis, gefährdet die Freiheit.

factum: Herr Sorg, Sie haben als Psychologe in einem beruflichen und weltanschaulichen Umfeld gearbeitet, in dem «das Böse» eigentlich keinen Platz hat. Wenn ein Mensch Böses tut, dann wird das den Umständen geschuldet, als «biografischer Unfall» angesehen. Eigentlich sei der Mensch ja gut. Jetzt legen Sie ein Buch vor, in dem Sie eindrücklich die Existenz des Bösen in der Welt und im Menschen beschreiben und analysieren. Was ist passiert ? Welche Entwicklung haben Sie durchlebt, wodurch wurde sie in Gang gesetzt und angetrieben ?

Sorg: Ich arbeitete sieben Jahre lang in einer Kriseninterventionsstelle gegen Kindsmisshandlung. Später war ich als Delegierter des IKRK in Kriegsgebieten tätig. Zuerst im Südsudan, dann im auseinanderbrechenden Jugoslawien. Wir konnten mit Gefangenen reden, unter vier Augen. Dort bin ich zum ersten Mal mit extremer Grausamkeit und Mitleidslosigkeit konfrontiert worden.

Mit Menschen, die kein schlechtes Gewissen beim Töten haben. Die ganze Atmosphäre ist erfüllt gewesen mit unvorstellbaren Blutgeschichten. Erzählungen von extremer Grausamkeit.

factum: Was hat das bei Ihnen bewirkt?

Sorg: Ich war erschüttert. Ich war kein junger Mann mehr, hatte studiert, bin in der Welt herumgekommen. Aber das hat mich im Innersten aufgewühlt. Ich lebte bis dahin in einer Art Grundvertrauen in die mich umgebende Welt, plötzlich wurde mir mit beinahe physischer Wucht bewusst, dass die Decke der Zivilisation dünn und brüchig ist. Das war der zwingende Anstoß, alles neu zu überdenken. Ich habe fast obsessiv darüber nachgedacht und viel mit einem Kollegen darüber gesprochen. «Würden wir das auch machen ?», war immer die Hauptfrage. Ich konnte mir das nicht vorstellen, aber auch nicht völlig außchließen. Das ist wie eine Häutung gewesen, eine Häutung meines Menschenbildes aufgrund dieses Schocks. Das war fast körperlich.

factum: Was hat Sie vor Ort besonders erschüttert ?

Sorg: Dass diese Dinge einfach so geschehen, als ob es das Selbstverständlichste wäre. Es ist «nichts dabei». Zum Teil waren das ganz sympathische Typen, man konnte sich vorstellen, mit denen mal ein Bier zu trinken. Dann erfährt man, was diese Menschen für Sachen machen. Ich hatte Mühe, denen die Hand zu geben. Aber dann gewöhnt man sich dran, sehr schnell, es ist ein Albtraum, aber es wird normal. Das sind keine armen Leute, die man in den Krieg gehetzt hat. Es ist die Situation, die sie beflügelt. Die Menschen berauschen sich nicht an Ideen, sondern sie benutzen Ideen, um ihren Rausch zu legitimieren. Die äußeren Umstände bilden nur den Rahmen für das freie Handeln des Einzelnen, aber sie liefern keine Erklärung für die Entscheidung zu einer bösen Handlung.

factum: Nach Ihrer Zeit als IKRK-Delegierter waren Sie als Journalist in Kriegsgebieten. Von Berufs wegen mussten Sie der Wahrheit, auch wenn es schmerzte, ins Auge sehen.

Sorg: Ja, ich war ab 1993/94 immer wieder in Kriegsgebieten unterwegs. Die Frage war für mich immer: Wie ist der Mensch zu so etwas fähig? Und habe dann gemerkt: Bevor man irgendeine Antwort finden kann, muss man fähig sein, überhaupt genauer hinzuschauen, was passiert. Ich war an wilden Orten, wo vor mir schon viele andere Journalisten gewesen waren. Ich hatte deren Reporte gelesen, auch in der angelsächsischen und französischen Presse. Ich dache, ich wüsste, was mich da erwartet. Aber Liberia beispielsweise war schlimmer als alles, was ich mir vorstellen konnte. Nur in zwei oder drei von Dutzenden von Berichten, die ich las, wurden die Dinge angedeutet, die da wirklich geschahen. Unter den westlichen Journalisten herrschte offenbar eine Art kollektive Wahrnehmungssperre.

Kritik an die katholische Kirche Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt