Kapitel 6

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Charlotte

Zwei Wochen waren seit meinem Krankenhausbesuch ins Land gezogen. Emma hatte ich seitdem kein einziges Mal gesehen. Ich rechnete auch nicht damit, sie jemals noch mal wieder zu sehen. Das Geheimnis um ihre Person hatte ich nicht lüften können und so war es nach und nach immer mehr in den Hintergrund gerückt.
Eine Frage, die viel dringlicher war, war in den Vordergrund gerückt. Mein Bein heilte zwar, aber es ging alles nur sehr langsam voran und so bestand weiterhin das Problem, dass ich betteln musste, um an Essen zu kommen. Viel verdiente ich mit dem Betteln nicht und ich hatte andauernd Hunger. Gewicht hatte ich ebenfalls mehr als genug verloren und sah deshalb nun noch erbärmlicher aus als vorher. Die Kleider, die mir mal wie eine zweite Haut gepasst hatten, schlabberten nun an mir herum und dreckig waren sie auch noch.
Ich musste mir dringend etwas Neues einfallen lassen. Nur was? Ich war ja nicht mal alt genug, um einen Job annehmen zu können.
Ich war also mal wieder in einer echt miesen Stimmung, als ich an meinem angestammten Platz in der Londoner Innenstadt saß. Mehrere Passanten warfen mir misstrauische Blicke zu, so als würden sie gleich befürchten, dass ich ihnen an die Kehle springen könnte.
Die erste Stunde ignorierte ich das Ganze noch, doch irgendwann kam ich mir vor wie ein Tier im Zoo. Ich trat unverrichteter Dinge den Rückzug zu meinem Lager an.
Wieder ein Tag, an dem ich Hunger leiden musste. Aber morgen war ja auch noch ein Tag...

Emma

„ Okay. Pause" rief der zuständige Coordinator dem Fotografen und Emma, die vor der Kamera stand, zu.
Heute stand sie für die Zeitschrift 'ELLE' vor der Kamera, der sie bereits schon ein Interview über ihre Rede als UN- Botschafterin gegeben hatte. Der Artikel sollte zusammen mit den Fotos in einer Sonderedition im Dezember in allen möglichen Läden verkauft werden.
Die Make- up Artisten reichte Emma eine Jacke, die sie über das Top, dass sie für die Fotos tragen musste, anziehen sollte.
Emma verzog sich ins Bad, um kurz einige Minuten für sich zu haben und sich zu sammeln. Es war ganz schön anstrengend den ganzen Morgen in die Kamera zu lächeln und sich neue Posen einfallen zu lassen.
Kaum hatte sie das Bad betreten, klingelte auch schon ihr Handy. Emma vermutete, dass es Matt war, der sich erkundigen wollte, wie das wichtige Fotoshooting lief, doch als sie auf das Display schaute, war es ihre Managerin.
Emma runzelte die Stirn. Eigentlich erwartete sie keinen Anruf von ihr, doch trotzdem ging sie ran.
„ Hallo..." meldete sie sich, wenn auch mit einem leicht überraschten Unterton.
„ Emma, guten Morgen. Wie läuft das Fotoshooting? Ich hoffe, ich störe nicht."
„ Nein...nein...ich habe gerade Pause." Nun war Emma noch verwirrter. Ihre Managerin rief sie nie auf der Arbeit an, wenn es sich vermeiden ließ. Sie schickte höchstens eine SMS.
„ Warum ich anrufe... ich habe raus gefunden, wer das Mädchen ist."
Stille.
Zuerst wusste Emma nicht einmal, worüber ihre Managerin da überhaupt sprach, doch dann viel es ihr wie Schuppen von den Augen: Das kleine Mädchen, dass sie vor ein paar Wochen einfach ins Krankenhaus gebracht hatte. Daran hatte Emma gar nicht mehr gedacht. Oder sollte man besser sagen, sie habe es verdrängt?
„ Emma, bist du noch dran?" fragte ihre Managerin. Eine gewisse Unruhe schwang in ihrer Stimme mit.
„ Ja... was hast du raus gekriegt?" Emma rieb sich mit der einen Hand durch ihr Gesicht und bereitete sich innerlich bereits auf ein Donnerwetter seitens der Eltern von Charlotte vor.
„ Sie ist..." setzte ihre Managerin an, doch in diesem Augenblick öffnete sich die Badezimmertür und der Coordinator erschien in der Tür.
Vor Schreck ließ Emma das Handy fallen, das mit einem lauten Rums auf dem Boden landete und das Telefonat beendete.
„ Ich wollte dich nicht erschrecken." Zerknirscht hob der Coordinator das teure Handy auf und reichte es ihr.
Emma brachte ein etwas verkrampftes Lächeln zustande:" Ich bin gleich da."
Der Coordinator nickte nur und zog sich dann leise zurück.
Emma steckte, ohne einmal darauf geschaut zu haben, das Handy in ihre Tasche und betrachtete sich im Spiegel.
„ Emma, das schaffst du. Du stehst dieses Fotoshooting durch und danach widmest du dich voll und ganz der Sache mit Charlotte," redete sie sich selbst gut zu. Innerlich hoffte sie, das nach dem Gespräch mit ihrer Managerin all ihre Sorgen ausgeräumt waren.
Noch einmal atmete sie tief durch, bevor sie das Bad verließ.

Einige Stunden später saß sie in dem Büro ihrer Managerin. Sie war direkt nach dem Fotoshooting zu ihrer Agentur gefahren, um die Sache mit Charlotte zu erledigen, bevor sie in wenigen Tagen nach Deutschland aufbrach, um ihren neuen Film zu drehen.
„ Also, was ich herausgefunden habe ist, dass Charlotte seit einigen Jahren als Vollwaise auf der Straße lebt. Ihre Mutter hat sie in ein Pflegeheim gesteckt, nachdem sie von Charlottes Vater verlassen wurde. Laut der Angaben aus dem Waisenhaus, soll sie völlig überfordert gewesen sein, so alleine mit einem kleinen Kind. Vor ein oder zwei Jahren ist Charlotte dann aus dem Waisenhaus ausgebüchst und seitdem nicht mehr zurück gekommen. Die Polizei hat mehrere Monate versucht, sie wieder dorthin zurück zu bringen, sie aber niemals schnappen können. Mittlerweile wird sie als Waise auf der Straße geduldet, sofern sie niemand beim Klauen erwischt."
Emma war die Kinnlade heruntergefallen. Sie hatte eher mit einer Standpauke der Eltern gerechnet, die ihr vorhielten, sie könne nicht einfach ihr Kind mitnehmen und in ein Krankenhaus zerren. Im Kopf hatte sie sich nämlich bereits einige gute Gegenargumente zurecht gelegt.
Mit dieser Offenbarung hatte sie allerdings nicht gerechnet. Emma wusste zwar nicht, wie es war Mutter zu sein und ein Kind großzuziehen, aber sie konnte sich nicht vorstellen, ihr Kind einfach so in ein Waisenhaus zu geben. Charlottes Mutter musste gute Gründe gehabt haben. Doch dass Charlotte auf der Straße lebte und sich niemand um sie kümmerte, war ein unhaltbarer Zustand.
„ Wir müssen was tun," sagte sie nach langer Pause zögernd.
Ihre Managerin warf ihr wieder einen dieser 'Tu bloß nichts Dummes' Blicke zu.
„ Wir können Charlotte doch nicht einfach auf der Straße lassen. Es ist Winter," verteidigte Emma sich.
„ Aber Emma, Charlotte lebt seit Jahren auf der Straße. Außerdem weißt du gar nicht, ob sie mit uns mitkommen würde. Und was willst du dann tun? Sie in ein anderes Waisenhaus geben?"
So weit hatte Emma dann auch wieder nicht gedacht.
„ Sie könnte doch..." begann Emma.
Sie hatte den Satz noch nicht beendet, doch ihre Managerin erahnte bereits, was sie sagen wollte und schüttelte den Kopf:" Wie stellst du dir das vor? Emma, du bist dreiviertel des Jahres in der Weltgeschichte unterwegs und Matt ist sicher nicht begeistert, wenn ein Waisenmädchen bei euch einziehen würde. Es ist ja nicht damit getan, dass sie bei dir wohnt. Sie muss in die Schule, braucht Kleider, Essen. Ich kann dich nicht davon abhalten, schließlich bist du volljährig, aber ein Kind aufzunehmen ist nicht einfach."
Emma steckte in einem echten Dilemma. Natürlich hatte ihre Managerin, wie so oft, Recht mit dem, was sie da sagte. Es war tatsächlich nicht damit getan, Charlotte einfach nur bei sich aufzunehmen.
Aber irgendeine Lösung musste es doch geben. Und diese Lösung musste schnell gefunden werden.


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