Kapitel 2

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  Charlotte

So tief in meinen Gedanken versunken, hatte ich gar nicht bemerkt, dass es dunkel und dazu noch eisig kalt geworden war. Die dunklen Wolken, die schon den ganzen Tag verhängnisvoll über der Londoner Innenstadt gehangen hatten, hatten sich zusammengezogen und versprachen einen baldigen Wintereinbruch mit viel Schnee.
Die Straßen waren nun menschenleer. Ein paar Meter entfernt kreuzte eine Katze die Straße. Von irgendwo her drang das Geräusch von Hundegebell an mein Ohr. Langsam stand ich auf und bewegte meine von der Kälte steif gewordenen Glieder.
Mit gesenktem Kopf ging ich die Straße entlang. Wenn ich an hell erleuchteten Fenstern vorbei kam, blieb ich stehen und spähte hinein. Meist bot sich mir ein Anblick, der mich schmerzlich daran erinnerte, dass ich keine Familie hatte, die mich in den Arm nahm und tröstete, dass ich tagtäglich ums Überleben kämpfen musste. Dass ich ganz allein war.

Auch wenn ich den Weg zu meinem Versteck im Wald im Schlaf finden konnte, so war es in der Dunkelheit mit all den unheimlichen Geräuschen gar nicht mal so leicht. Mehr als einmal stolperte ich über eine Wurzel oder einen abgebrochenen Zweig.
Mit weit aufgerissenen Augen und die Hände tastend nach vorne gestreckt, bahnte ich mir einen Weg durch das dichte Geäst.
Plötzlich raschelte es direkt neben mir im Gebüsch und ich fuhr zusammen. Von Panik ergriffen rannte ich los und fiel prompt über einen abgestorbenen Baumstamm. Ich schlug der Länge nach hin und blieb erst einmal benommen liegen.
Nachdem der Schockmoment vorbei war, bemerkte ich einen stechenden Schmerz in meinem rechten Knie. Keuchend setzte ich mich auf und zog die Hose bis zu dem verletzten Knie hoch. So weit ich das im Dunkeln beurteilen konnte, hatte ich mir das Knie nur aufgeschlagen und höchstwahrscheinlich verdreht.
Das hatte mir gerade noch gefehlt. Es schränkte meine Mobilität ungemein ein. Wütend über meine Unachtsamkeit, stand ich langsam auf und humpelte zu meinem 'Bett'. Ich redete mir ein, dass der Schmerz morgen bestimmt weg sein würde und ich wieder wie gewohnt in die Londoner Innenstadt gehen konnte.
Mit diesen Gedanken rollte ich mich zusammen, warf eine von Mäusen zerfressene Decke über mich und versuchte zu schlafen.

Emma

Der nächste Tag begann so hektisch wie der letzte. Zu allem Überfluss hatte sie noch verschlafen und musste sich jetzt tierisch beeilen, um noch rechtzeitig zu dem Fototermin zu kommen, der schon seit Monaten fest eingeplant gewesen war. Matt war schon zur Arbeit aufgebrochen.
Als Emma sich endlich für ein passendes Outfit entschieden hatte, blieben ihr nur noch knapp eine halbe Stunde, um sich die Zähne zu putzen und zu ihrem nächsten Termin zu fahren.
Mit einem schnellen Blick nach draußen, erkannte sie, dass ihr Chauffeur bereits vor der Tür im Auto wartete und eine Zeitung las.
In Lichtgeschwindigkeit putzte sie sich die Zähne, sprang in ihre Schuhe und rannte zum Auto. Keuchend ließ sie sich auf die Rückbank sinken. Der Chauffeur nickte ihr nur höflich zu, legte seine Zeitung beiseite und startete den Motor.
Emma war froh, dass die Fahrt über eine viertel Stunde dauern würde. So hatte sie Zeit wieder zu Atem zu kommen und ihre Haare zu ordnen. Ihre typischen 'Hermine-Haare'verfolgten sie manchmal immer noch, was sie in Momenten wie diesen außerordentlich störte. Sie benutzte ihre Hand als Kamm und fuhr sich damit durch die Haare.
Viel brachte es nicht, weshalb sie ihre Haare Haare sein ließ und aus dem Fenster schaute. Obwohl sie schon lange in London lebte und arbeitete, entdeckte sie immer Neues. Es machte ihr Spaß die Menschen und ihr Treiben aus ihrer sicheren Höhle heraus zu beobachten. Manchmal fragte sie sich, welche Geschichte hinter diesem Mann steckte oder was jene Frau gerade in ihr Handy sprach. Sie liebte es, sich zu den Dingen und Menschen, die sie gerade sah eine Geschichte auszudenken und den gesehenen Moment darin zu verstricken.
An einer Ampel hielt der Wagen an und Emmas Blick fiel auf ein zusammengekauertes Mädchen in vor Schmutz starrender Kleidung. Das verhärmte, mit Schmutzstreifen durchzogene Gesicht erinnerte Emma an eine alte Frau, doch als das Mädchen aufblickte erkannte sie schockiert, dass das Mädchen noch keine 15 Jahre alt sein konnte.
Wie in einer Art Schockstarre beobachtete sie, wie das Mädchen mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Hose hochschob und ein geschwollenes Knie zum Vorschein kam.
Emma hielt die Luft an und starrte weiter auf das Mädchen. Plötzlich hob dieses den Kopf und starrte Emma genau in die Augen. Fast panisch rutschte sie ins Dunkle des Wagens zurück, doch dann fiel ihr ein, dass das Mädchen sie durch die getönten Scheiben des Wagens überhaupt nicht bemerkt haben konnte.
Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung und bevor Emma überhaupt nachdenken konnte, hatte sie die Tür aufgerissen, war aus dem Wagen gesprungen und ging auf das Mädchen zu. Auf die Rufe ihres Chauffeurs, sie solle wieder zurück kommen, hörte sie nicht.  


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